Als eine Christian Scientistin auf eine unerwartete Frage sich einen Augenblick zur Überlegung erlaubte, bemerkte die Redende lachend: „Das habe ich gerade erwartet; all die Christian Scientisten meiner Bekanntschaft tun das — beantwortet ihr niemals eine Frage unumwunden und ohne Zögern?”
„Auf gewöhnliche Fragen, die täglich vorkommen,” erwiderte die Scientistin, „ist die Antwort bereit, aber in zweideutigen Fragen wie die Ihrige, die verschieden verstanden und ganz verschieden ausgelegt werden können, kann man nicht zu vorsichtig sein. Solche Fragen haben die Christian Scientisten zuweilen zu freimütig beantwortet und dann hat man diese Antworten als Waffen gegen sie benutzt; daher überlege ich meine Antwort sorgfältig um mich nach meiner höchsten Erkenntnis der Wahrheit auszudrücken.”
„Was verstehen Sie unter Wahrheit?”
„Mit der Wahrheit meine ich das, was absolut und positiv ist, nicht das, was nur zu sein scheint oder was den Sinnen als wahr erscheint und von Unbesonnenen als wahr verbreitet wird.”
„Soll damit gesagt sein, daß wir das, was wir mit den Sinnen wahrnehmen, nicht glauben sollen? Was nützt uns dann das Sehen, Hören und die andern Sinne?”
„Diese Sinne dienen dem Menschen und bei richtigem Denken und Vorsatz sind sie zur Auslegung und Erklärung von höchstem Wert, aber immer nur als Diener, niemals als Herrscher oder Weissager.”
„Was meinte Pilatus mit der berühmten Frage: ‚Was ist Wahrheit ?‘”
„Hätte Pilatus zu keinem andern Zwecke gelebt als zur Bildung des Gedankens: ‚Was ist Wahrheit?‘ so ist dieselbe für die Menschheit wichtig genug, den Mann, der diese Frage stellte, durch Zeitalter auszuzeichnen, und diese Antwort auf Jesu Erklärung: ‚Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme,‘ beweist, daß er die geistige Macht erkannte, die mächtige Wahrheit des Mannes, der kein Wort zu seiner eigenen Verteidigung äußerte, sondern ganz unerschrocken verkündete, daß Wahrheit göttlich ist.”
„Wie beweisen Sie die Göttlichkeit der Wahrheit?”
„Das, was göttlich ist, ist das ausschließliche Eigentum der Gottheit und unterscheidet Ihn von der Menschheit. Gott ist das Leben, — die Lebensquelle, — deshalb das Prinzip. Jesus, der Christus, und Christian Science lehren uns, daß Gott das vollkommene, harmonische Sein ist. Sein ist das, was ist, — absolut, unbedingt, positiv, unzweifelhaft, deshalb ist es die Wahrheit, — und nichts ist Wahrheit, was weniger als absolutes Sein ist.
„Pilatus Frage beweist den Denker; die damals bekannte Welt war zu der Zeit in einem Aufruhr; im Vergleich mit demselben ist der geistige Tumult unserer Zeit milde. Die Nationen des Orients waren bis auf den Grund erschüttert; die ganze Bevölkerung war aus ihrer alten Heimat vertrieben und strömte gleich einer Flut in die westliche Welt. Barbarische Horden überfielen die Gebirgspässe, welche die römische Welt und deren Eroberungen beschützten und brachten seltsame Glauben an Unsterblichkeit, Seelenwanderung und Wiederverkörperung mit sich. Die elastische und behagliche Mythologie Roms nahm allmählich die Glauben der Nationen, welche Rom einzusaugen wünschte, an; jede Legion der römischen Armee zählte in sich Männer aus jedem damals bekannten Land; sie repräsentierten jeden Glauben und jede Denkart, und diese Mischung von Glauben und Fabel, in den Kelch des hebräischen Monotheismus zusammen gegossen, erzeugte einen geistigen Tumult, der sich noch nicht gelegt hat. Aber wir wissen, daß die Wahrheit das ist, was ist, und daß nichts, was nicht ist, die Wahrheit oder wahr sein kann. Sogar ein Kind, wenn es gefragt wird: ‚Weshalb ist dies nicht wahr?‘ antwortet: ‚Weil es nicht ist.‘”
„Dann halten Sie die Wahrheit für Gott?”
„Nein, wir halten nicht die Wahrheit für Gott, — Gott ist Wahrheit, weil Gott das Sein ist. Gott ist Liebe und Gott ist das Leben, sowohl als die Wahrheit.”
„Und was ist Aufrichtigkeit?”
„Aufrichtigkeit ist die Eigenschaft, die so von dem Bewußtsein der Wahrheit eingenommen ist, — von der Wirklichkeit Gottes, daß kein Raum für einen falschen Sinn von dem, was wahrlich ist, übrig bleibt.”
„Ist nicht dieses Ideal von der Wahrheit unerreichbar?”
„Nicht wenn wir standhaft in dem Verlangen nach Aufrichtigkeit beharren, ‚Gebet ist der aufrichtige Wunsch des Herzens‘ (Christian Science Hymnal). Auch können wir verstehen, wie der fortwährende Kampf, aufrichtig zu sein, unaufhörliches Gebet ist, und wir wissen, daß wir das Gewünschte erhalten, daß jedes erkannte und bekannte Bedürfnis den verheißenen Segen als Antwort auf des Herzens beständiges Gebet bringt. Wir brauchen nicht zu fürchten, daß wir ein zu erhabenes Ideal beherbergen, oder ‚unsern Wagen an die Sterne zu knüpfen,‘ denn je höher unser Streben im Verlangen, desto näher kommen wir der Quelle aller Gnade, und wir wissen, daß diese ewig fließende Quelle immer bereit ist, und daß wir jede Not stillen dürfen und ‚umsonst.‘ Die Gefahr des Ungehorsams gegen die Wahrheit ist nicht klar genug erkannt. Ein sachdienlicher Fall ist der einer Dame, die ein großes Verlangen trug in der Gesellschaft zu glänzen, ihre Freunde durch ihre Unterhaltung zu amüsieren und interessieren. Um dies zu tun, blieb sie keineswegs der Wahrheit getreu, sondern übertrieb bis zum äußersten um witzig zu erscheinen. Infolgedessen blieb ihr schließlich kein einziger Freund, denn keiner war sich gewiß, ob er oder sie nicht das nächste Opfer eines erstaunlichen Geschwätzes sein würde; — und durch diese verderbliche Angewohnheit ist ihr Geist so umnachtet, so entstellt, daß ihre Familie die traurigen Zeugen der Ausartung und des Verderbens einer einst klaren Intelligenz sein müssen. Und dies ist nur durch die Geringschätzung der Wahrheit veranlaßt. Die einzige Hoffnung ist, daß das Licht der Wahrheit durch Christian Science, diese Finsternis durchdringen möge und sie aus der Grube errette, die sie sich selbst gegraben.”
Die Umbildung des Sinnes vom Leben durch einen belebenden und veredelten Sinn von der Wahrheit und Aufrichtigkeit, ermutigt beständig den Christian Scientisten in seiner Arbeit. Jemand, der von schweren physischen Leiden geheilt worden war, sagte eine Zeitlang nach der Heilung: „Meine neue Gesundheit scheint mir ein neues Wahrnehmungsvermögen für das Gute, das Wirkliche und das Wahre geschenkt zu haben; Redensarten und Handlungen, die mir ehemals nur dumm und albern vorkamen, zeigen sich jetzt als absolut schlecht und sündhaft, und Handlungen, die mir ehemals unterhaltend schienen, erkenne ich nun als unehrlich. Ich schätze die Wahrheit jetzt so viel mehr, da ich Gott als Wahrheit erkenne.”
Pilatus’ Frage: „Was ist Wahrheit?” sollte heute und fortwährend die unsrige sein; der königliche Prediger sagt uns: „daß Gott den Menschen hat aufrichtig gemacht; aber sie suchen viel Künste.” Diese Künste des sterblichen Geistes sind nicht zum Vorteil der Menschheit gewesen, denn sie haben Sünde, Krankheit und Tod vermehrt; es gibt ihrer viele und der Flitter ihrer Falschheit bezaubert oft die Sinne; die Kenntnis von der Schönheit und Seligkeit der Wahrheit allein kann den Menschen sicher aus den vielfarbigen Schlingen des Versuchers erretten und ihn in das klare Licht des Himmelreichs der herrschenden Wahrheit führen.
