Richtig beten zu lernen ist das Geheimnis des ganzen christlichen Erfolges. Die Probleme des Übels — Sünde, Krankheit, Kummer, Unglück und Mangel — stellen sich den Sterblichen bei jedem Schritt entgegen und ihre richtige Lösung, die die Menschen dazu befähigt, diese Zustände aus dem Bewußtsein auszulöschen, bedingt das wahre Verständnis und die wahre Ausübung des Gebets, nicht als blinde Hoffnung oder als Huldigung abergläubischer Furcht, sondern als die Anwendung der Christus-Wahrheit, die den menschlichen Irrtum berichtigt.
Es ist immer der Wunsch der Menschheit gewesen, den Ursprung oder das Prinzip des Seins zu verstehen, Gott zu entdecken und zu erkennen, und um die Gedanken, die über Ihn herrschten, haben sich die verschiedenen Vorstellungen vom Himmel gruppiert. Dieser Zustand himmlischer Seligkeit ist geschildert worden, als in der Gegenwart Gottes bestehend, aber doch immer so fern, daß die leidenden Bewohner der Erde ihn sich nur als entfernte Möglichkeit erträumt haben. Die wahrste Form des Gebets ist die, die am meisten das Verlangen, Gott zu erkennen, befriedigt, und die das Bewußtsein der Menschheit von Ihm getrennt zu sein, aufhebt. Es ist sicher, daß wenn die Sterblichen sich der Gegenwart Gottes klar bewußt werden, sie in das Himmelreich eingegangen sind und daher über den Zuständen stehen, die die Hölle — die Herrschaft des Zwiespalts — mit sich bringt. Daß dies der Zweck des Gebets ist und daß er auf Erden verwirklicht zu werden vermag, ist durch die Bitte Jesu, die immer im Vorbild für alle Christen bleiben muß, offenbar gemacht.
Der Schüler muß im Anfang bedenken, daß es nicht das Amt des Gebets ist, den Gedanken Gottes Form zu geben, sondern den Gedanken der Menschen. Wie uns in unserm Lehrbuch gesagt wird, wartet Gott nicht auf menschliches Flehen um Hilfe, um Alles in allem für den Menschen zu sein, denn Er ist heute, wie Er es in der Vergangenheit gewesen ist, wie Er es ewig sein wird, die Allgegenwart und Allmacht der unendlichen Liebe und bleibt auf allen Wegen, zu allen Zeiten und in allen Nöten bei den Seinen. Gott kann nichts anderes sein als Er selbst. Das menschliche Flehen, so kläglich es auch wäre, vermöchte in Millionen von Jahren nicht Ihn liebreicher, gütiger, barmherziger und besser zu machen, als Er ist und immer war. Für jede Not ist schon gesorgt in der Wahrheit, dessen, was Gott ist. Die Notwendigkeit des Gebets liegt in der sterblichen Unwissenheit über diese Wahrheit und die Gebete werden erhört, wenn diese Unwissenheit aufgehoben ist. Gott hat nicht nötig, das noch einmal zu geben, was Er bereits gegeben hat, oder das noch einmal zu tun, was Er bereits getan hat, ebensowenig wie Er nötig hat neue Sonnen zu erschaffen um die Dunkelheit geschlossener Augen zu erleuchten.
Der wahre Wert des Gebets liegt also in seiner Wirkung auf den Bittenden selbst, da er dadurch Gott im Gedächtnis behält und sein Angesicht Gott zuwendet, bis sein eigenes Denken und sein Charakter göttlich erleuchtet werden. Gebet ist die Ausbildung jenes Gedanken-Zustandes, der sich voll Ehrfurcht und Dankbarkeit das Gute aneignet, was Gott gegeben hat; es ist nicht ein Betteln um das, was Gott sonst vorenthalten würde. Das Kind Gottes ist kein Bettler, sondern ein Erbe, berechtigt zu allem „was der Vater hat”; und die Heilige Schrift sagt uns auch, daß wir „nun Gottes Kinder” sind. Wir sollten uns daher „nun” als „Kinder” zu Gott nahen und nicht als Ausgestoßene oder Waisen, und wir sollten uns auch bestreben die Zustände, die zu solcher Verwandtschaft gehören, in unsere Erfahrung hineinzubringen. Gebet ist das geistige Bekämpfen und Überwinden dessen, was immer unser Denken hindert, das Geburtsrecht des Menschen zu verwirklichen; es ist die geistige Erkenntnis, daß alles was den Menschen als krank oder sündig, verlassen oder sterbend hinstellt, ein falscher, irrtümlicher Begriff ist, der durch unsere Erkenntnis und Anwendung der Wahrheit berichtigt und vernichtet werden soll.
Wir haben noch nicht angefangen wahrhaft zu beten, wenn wir erwarten, daß unsere Bitten die göttliche Gegenwart in unsere Unwissenheit und in unsere Sünde herabziehen werden, um uns darin zu segnen. Wie vermöchte ein unendlicher und allgegenwärtiger Gott da einzudringen, wo Er nicht schon ist? Und am allerwenigsten könnte Er in einen Raum gehen, der, außer im sterblichen Wahn, nicht vorhanden ist; d. h. in den Raum, wo man wähnt, daß das Übel sei. Wie können wir Gott in Aufrichtigkeit bitten, uns zu segnen, so lange wir einen andern Gott verehren? Wie können wir von Ihm erwarten unsere Krankheiten zu heilen, solange wir uns in zitternder Furcht vor einem falschen Begriff von Gott beugen, von dem wir glauben, er habe unser Leiden verursacht; oder solange wir in unserm Herzen einem Gott der materiellen Medizin huldigen? Wie können wir erwarten, daß Gott alles für uns ist, solange wir Leben, Macht, Intelligenz, Substanz, Gegenwärtigkeit fast alles dem Bösen, der Materie, dem Zufall, der Krankheit, dem Mangel, dem Kummer, dem Tode zuschreiben? Dies sind zur Sache gehörige Fragen und unsere Antworten sollten beweisen, wie wir dazu stehen und uns etwas von der Arbeit zeigen, die Gott von uns fordert.
Der Mann, der sich in einen Kerker einsperren und die Sonne bitten würde ihn dort zu bescheinen, würde uns Mitleid einflößen und doch, haben wir nicht häufig eine ähnliche Haltung in unsern Gebeten eingenommen? Bitten nicht die Menschen Gott, sie zu segnen in ihrer Sündhaftigkeit, in ihrer Unwissenheit, zu segnen ihren Glauben an Krankheit und Arznei, ihren Glauben an materielles Leben und materielles Sterben, ihren Glauben an die Vermischung von Gut und Böse, den die göttliche Wahrheit von anbeginn verurteilt? Bitten wir nicht tatsächlich Gott darum, unsere Trägheit zu segnen, und uns das zu geben, was wir nicht willens sind, uns zu erarbeiten? Und doch, wer ist unter uns, der dem Mann im Kerker nicht sagen würde, heraufzukommen, wenn er den Sonnenschein zu finden wünscht?
Wir werden auf diese Weise dahin geführt zu erkennen, wie unsere eigene Handlungsweise in betreff unserer Bedürfnisse sein sollte. Wir sollen nicht aufhören zu beten, aber wir sollen anders beten, wenn es wahr sein sollte, daß wir bis jetzt von Gott verlangt haben unsere Arbeit für uns zu tun. Wir müssen ebenfalls in den Sonnenschein gehen, wenn wir seine Wohltat genießen möchten. Wir müssen aus dem Materiellen und aus den falschen Bedingungen, die zu Krankheit und Unglück führen, herauskommen, wenn wir den Sonnenschein der göttlichen Liebe genießen und geistige und Physische Harmonie zum Ausdruck bringen möchten. Gott zu bitten „herabzukommen” und uns in unserer Sündhaftigkeit „zu segnen,” heißt das Unmögliche erbitten. Das Gute kann weder in einen bösen Zustand eindringen, noch ihn segnen, wir aber können aus unsern bösen Gedanken herauskommen und Gott finden. Wir können aus Ärger, Selbstsucht und Haß herauskommen und finden, daß die Liebe überall ist. Die Fähigkeit dies zu tun, ist natürlich; dies ist die Arbeit, die Gott verlangt und das Gebet ist der Weg, auf dem die Menschheit zu ihrer Vollkommenheit hinpilgert. Das Gebet ist die geistige Tätigkeit, die das Denken vom Bösen zum Guten vom Irrtum jeder Art zur Wahrheit hinlenkt, die diesem richtigen Anfang folgt und den ganzen Kampf des Christen mit dem Fleisch und der Welt begleitet, bis er das Bewußtsein von dem Nichts des Bösen und der Allheit Gottes, des Guten, erreicht. Dies ist die Art des Gebets, das nie aufzuhören braucht; es dankt immer für Gottes Güte.
Der Schüler in der Christian Science lernt erkennen, daß für ihn das Gebet immer eine Tätigkeit bedeutet; niemals Trägheit oder Hilflosigkeit. Er lernt erkennen, daß die Unfruchtbarkeit oder Fruchtbarkeit seiner Gebete in ihm selbst liegt; daß das Verlangen nach dem Guten seine Erfüllung in sich schließt, wenn der Mensch diesem Verlangen treu bleibt. Der Schauplatz des menschlichen Bewußtseins, auf dem sich das Drama des sogenannten sterblichen Daseins abspielt, ist ein geistiger Zustand und ist immer der Beherrschung des Denkens unterworfen. Das Gebet wird in der Christian Science angewandt, um dieses Denken richtig zu leiten, es auf der Bahn der Wahrheit zu erhalten; es über den Wahn des Bösen zu erheben und so Harmonie statt Mißklang hervorzurufen. Dies bedeutet Arbeit für den Schüler. Es bedeutet das Überwinden böser Wahnvorstellungen, die Reinigung des Denkens, die Nachfolge Christi.
Das Gebet der Christian Science wird nicht dargebracht, um eine erzürnte Gottheit zu versöhnen, Seine Barmherzigkeit anzuflehen, oder darum zu bitten, daß Unwissenheit und Sünde übersehen werden möchten; sondern es ist das geistige Bestreben, die unwandelbare Wahrheit des Seins zu verstehen und sich auf sie zu verlassen. Es ist ein Protest gegen das Übel, ein kühner Einwand gegen die Beschuldigung, daß Gott Seine Kinder krank oder sündig mache, die Verwirklichung, daß außerhalb der Falschheiten des menschlichen Irrtums, Gott all-herrschend ist, allen Raum ausfüllt und alle Wirklichkeit in sich einschließt. Es ist ein geistiger Vorgang und ist sehr einfach; das einzige, was es schwer erscheinen läßt, ist unser Glaube an die Materie und an das Übel; und wenn dies überwunden ist, erkennt der Schüler klarer, daß der Mensch tatsächlich in Gott lebt und webt und in nichts anderem. Der Christian Scientist geht im Gebet zu Gott, wie einer, der an einen gedeckten Tisch tritt und alles nehmen darf, was er braucht. Es ist des Menschen Recht, die Frucht von dem Baum des Lebens, die Gott ihm gegeben hat, zu sammeln. Die Gewohnheit mit Gott zu verhandeln, darüber, daß Er ihm diese Frucht geben möge, ist ebenso unvernünftig, wie wenn ein Hungriger sich an einen reich gedeckten Tisch setzt und um Speise bittet. Was wir tun müssen, ist unsere geistigen Augen öffnen, sehen, wie der Jüngling es bei Elisa sah, daß wir von Gottes schirmender Macht umgeben sind, daß wir bei Ihm zu allen Zeiten sicher sind und daß nichts Gutes uns je vorenthalten wird.
Gebet ist das Bestreben uns klar bewußt zu werden, daß wir schon alles besitzen, was wir das Recht haben könnten zu erbitten und das einzige Hindernis ist nur unser Mangel an Zuversicht und Verständnis. Gott hat den Menschen zu Seinem eigenen Bilde gemacht; Er hat dem wahren Menschen die Fähigkeit verliehen, unendliche Macht, Intelligenz, Weisheit und Liebe widerzuspiegeln; kann Er mehr für ihn tun? Ist es nicht Zeit, daß die Christen anfangen diese Wahrheiten anzunehmen und sie auf ihre Bedürfnisse anzuwenden, anstatt ihre Augen zu schließen und Gott anzuflehen, sie zu segnen, wie sie es so lange getan haben? Ist es nicht Torheit, Gott um ein reines Herz zu bitten, wenn Er es dem Menschen von anbeginn gab und ihm nie wieder genommen hat? Ist nicht das bessere Gebet das, damit anzufangen, die Dinge, die unrein machen, aus unserm Bewußtsein auszutreiben, damit wir das göttliche Bild, das darin wiedergespiegelt ist, entdecken können?
Der geistige und der materielle Sinn des Menschen machen die Wahrheit und den Irrtum des ganzen menschlichen Problems aus. Der materielle Sinn ist immer in Zwiespalt und Unruhe, immer eins mit Sünde, Krankheit und Elend und daher stellt er das dar, was Gott nicht schuf. Der geistige Sinn ist immer harmonisch, normal und vollkommen, steht immer unter göttlicher Herrschaft und daher stellt er den wirklichen Menschen dar, den Menschen, der nie gefallen ist. Ist es nicht ein unrichtiges Gebet, den Segen Gottes für etwas zu erbitten, was Er nicht erschuf? Ist es nicht besser der Vorspiegelung, die von der Schlange in Eden herrührt, daß irgend etwas außer der göttlichen Schöpfung besteht zu widerstehen und sie zu überwinden? Ist es nicht ein gerechteres Gebet und eines, das wahrscheinlich wirksamer sein wird, wenn wir den materiellen Sinn ganz und gar leugnen, ebenso wie die Autorität oder die Macht des materiellen Gesetzes, und uns völlig auf Gott, das Gute, verlassen? Das Gebet der Christian Science wird auf dieser Grundlage dargebracht. Es beginnt mit dem ersten Schimmer der Wahrheit, mit dem der Schüler wenigstens so viel vom Irrtum zu vernichten vermag. Wenn er mehr versteht, wendet er mehr an, wenn er Gott besser versteht, lernt er besser beten, aber immer ist es sein eigenes Werk, das Böse mit Gutem zu überwinden, einerlei welche Gestalt das Übel anzunehmen scheint. Nur wenn wir die Wahrheit über Gott erkennen lernen, können wir unsern irrtümlichen Begriff vom Menschen richtig stellen.
Was kann der wirkliche Zweck des Gebetes sein, wenn es nicht der ist, uns fähig zu machen, den Menschen als Gottes Kind zu sehen — uns fähig zu machen durch beharrliches Streben die Wahrheit über alles das, was in unserm Bewußtsein dem Vater unähnlich ist, so anzuwenden, daß es vernichtet wird? Welches Gebet könnte einfacher, wirksamer oder ehrfurchtsvoller sein, als die Behandlung der Sünde mit richtigem Denken und Leben, die Behandlung des Hasses mit Liebe, der Bosheit mit Milde, des Ärgers mit Freundlichkeit? Jeder versteht mehr oder weniger was Liebe und was Gerechtigkeit ist und daß ihre Gegensätze die verwüstenden Dämonen sind, welche die Harmonie des menschlichen Daseins zu zerstören scheinen. Jeder sollte verstehen, daß diese Übel machtlos werden und schwinden in der Gegenwart der göttlichen Liebe und Güte. Da wir dies wissen, da wir wissen, daß wir immer lieben können statt hassen, daß wir immer recht statt unrecht tun können, welch anderes Gebet dürfen wir denn darbringen als das Gebet eines liebreichen und gerechten Lebens?
Wenn dem Schüler der Christian Science der erste Lichtblick von der wirklichen Bedeutung der Allheit Gottes wird, erfüllt dies ihn mit heiliger Scheu und unaussprechlicher Ehrfurcht, und wenn dies Licht zunimmt, erkennt er, daß alles Weh und alle Schlechtigkeit der Erde nur ein unwirklicher Schatten im menschlichen Bewußtsein ist, daß es keinen Raum im Göttlichen hat und daß es bei ihm steht, diesen Schatten durch die Aufnahme der wahren Gottes-Erkenntnis aus dem Bewußtsein zu verbannen. Sobald irgend ein Bewußtsein des Zwiespalts seinen ungerechten Anspruch geltend macht, wendet er, soweit er es vermag, trotz des materiellen Zeugnisses zum Gegenteil, die Wahrheit über des Menschen Vollkommenheit in Gott an. Das Ergebnis dieser Methode ist der Beweis ihrer Weisheit und Richtigkeit, denn es stellt das richtige Verhältnis der Dinge, Physisch wie moralisch wieder her, wie nichts anderes innerhalb des menschlichen Gesichtskreises es zu tun vermag, und es verleiht dem Schüler eine reinere Liebe zu Gott und dem Menschen, als er sie vorher kannte. Dies ist nicht das unvermögende Gebet eines Bettlers, sondern es ist das Gebet das „viel vermag.”
Das ganze Wesen des Gebets ist in ehrfurchtsvoller, erschöpfender Weise durch unsere Führerin im ersten Kapitel des Lehrbuchs der Christian Science „Science and Health with Key to the Scriptures“ erklärt und der, welcher es mit dem aufrichtigen Wunsch, die Wahrheit zu erkennen, Gott näher zu kommen, studiert — kann mit der Arbeit, die Christian Science zu bezeugen, beginnen, denn er kann anfangen seinen ersten Gedanken der Wahrheit auf das Problem, das sich ihm entgegenstellt, anzuwenden und er wird sicherlich die Erfüllung der Verheißung Jesu für den, der im Geringsten treu ist, verwirklichen. Das kleinste Körnchen der christlichen Wahrheit, das wir aufgelesen haben, wird, wenn richtig gepflanzt, gepflegt und vom Unkraut falschen Denkens rein gehalten, blühen und Frucht tragen, einiges dreißigfältig, einiges sechzigfältig und anderes hundertfältig.
„Was ist denn die Wissenschaft?”
Sie ist nur des Lebens Kraft.
Ihr erzeuget nicht das Leben,
Leben erst muß Leben geben. —
Copyright, 1906, Mary Baker G. Eddy.
Verlagsrecht im Jahre 1906, Mary Baker G. Eddy.