Es ist der begrenzten menschlichen Natur die Neigung angeboren, sich immer nach Unvollkommenheiten umzusehen, und gewöhnlich findet sie, was sie sucht. Sie hat keinen eigenen Maßstab und kein eigenes Vorbild, nach welchem sie urteilen könnte, weil sie die Christus-Idee der Vollkommenheit Gottes und des Menschen nicht anerkennt. Von ihrem eigenen begrenzten Gesichtspunkte aus behauptet sie — und zwar mit vollem Recht —, es habe keinen Zweck, in dieser Welt nach Vollkommenheit zu suchen, denn sie sei da nicht zu finden. Das Urteil der sogenannten physischen Sinne wird stets solcher Art sein. Wenn sich die Menschen nur von der Herrschaft dieser Sinne lossagen wollten, so hätten sie keine Neigung dazu, andere zu tadeln, oder Schwachheiten und üble Eigenschaften, welche man nicht dem Wesen Gottes zuschreibt, in ihnen zu suchen.
Der Menschheit Lieblingssünde, welche darin besteht, alles und jederman zu kritisieren, hat mit dem Fortschritt der Zivilisation scheinbar immer mehr Vorsprung gewonnen. Es ist das ganz begreiflich; denn weder durch das Studium der Theologie, noch durch das Studium der Naturwissenschaft ist die nötige Berichtigung der Sinnesbezeugungen bewirkt worden, und der Mensch wurde somit ein Sklave obiger Neigung sowie anderer geistiger Angewohnheiten. Die Menschheit hat sich so sehr an die Betrachtung unvollkommener Gedankenvorbilder gewöhnt, daß sie sich nur ungern mit der Idee der geistigen Vollkommenheit abgibt. Sie hält dieselbe kaum der ernsten Beachtung wert. Die herkömmliche Theologie ist hauptsächlich für diese träge Abneigung gegen ein jetzt erreichbares Verständnis des Geistes und seiner vollkommenen Kundgebungen verantwortlich. Sie hat der Menschheit in ihrem Bestreben, sich in dieser Welt mit geistigen Dingen bekannt zu machen, nichts Praktisches und Greifbares geboten. Das Vorbild Jesu, des unerreichten Metaphysikers, wurde nicht mehr als der einzige Maßstab des Denkens hervorgehoben; deshalb herrscht ein solch trauriges Mißverständnis seiner Worte und Werke; deshalb denken die Menschen über alle Dinge so planlos.
Jesus beging nie den Fehler, andere zu kritisieren oder zu richten. Seine Kritik war „die höhere Kritik” des Geistes, welche „geistliche Sachen geistlich” richtete. Er sagte: „Ihr richtet nach dem Fleisch. Ich richte Niemand. So ich aber richte, so ist mein Gericht recht.” Mrs. Eddy erklärt diese Worte in dem Lehrbuche, „Science and Health,“ folgendermaßen: „Jesus sah in der Science den vollkommenen Menschen, welcher ihm da erschien, wo dem Sterblichen der sündhafte und sterbliche Mensch erscheint. In diesem vollkommenen Menschen sah er Gottes Ebenbild, und dieses richtige Verständnis vom Menschen heilte die Kranken.” Ist es nicht klar, daß Jesus deshalb die Kranken heilen konnte, weil er nicht nach menschlicher Art und Weise richtete und kritisierte? Dasselbe bewahrheitet sich bei seinen Nachfolgern. Auch sie werden die Kranken nur dann heilen, wenn sie ihre Neigung zur gewohnheitsmäßigen Kritik über die äußere Erscheinung, die Handlungen und Beweggründe der Menschen abgelegt haben. Sollte dies nicht eine genügende Veranlassung zur andächtigen Betrachtung des Christus-Vorbildes sein? Wie kann sich irgend jemand, der ein Christ sein will, weigern, die Christian Science zu erforschen, da sie doch nichts weiter bezweckt, als in unseren Herzen einen Wohnort für die vollkommene Idee des Menschen zu bereiten? Jeder ernste Forscher, der das Vorurteil und die unfreundliche Kritik beiseite legt, kann die wissenschaftliche Behauptung beweisen, daß Gott nur den vollkommenen, geistigen Menschen erschaffen hat, und daß das richtige Verständnis dieser Tatsache die Kranken heilt. Richtiges Denken hat Gesundheit zur Folge, wie alltäglich in Tausenden von Fällen bewiesen wird. Dasselbe gibt sich nicht mit Tadel, absprechendem Urteil oder irgendwelchen körperlichen Betrachtungen ab, sondern es ist der natürliche und gesetzmäßige Ausdruck der göttlichen Intelligenz des Menschen — des Gesinnetseins „wie Jesus Christus auch war.”
Bis man einigermaßen eine Kenntnis des einen Geistes erlangt hat, ist es oft schwer, der Versuchung des Kritisierens zu widerstehen. Man gehorcht derselben oft ganz unbewußt. So lange die Liebe zum Guten nicht die Oberhand in unseren Gedanken hat, wächst diese Neigung immer mehr, bis sie zuletzt unser größter Feind wird. Eine heuchlerische Natur, die ihre eigenen selbstsüchtigen Meinungen als Weisheit und zuverlässiges Urteil ansieht, wird endlich ein wahrer Anarchist auf dem geistigen Gebiete — eine drohende Gefahr für sich selbst und seine Freunde. Der Maßstab der Kritik bestand ursprünglich in einem gesunden Urteil; leider ist dasselbe aber von seinem hohen Ideal herabgefallen. Dryden erklärt: „Die Kritik ist heutzutage nichts weiter als die Arbeit eines Henkers, denn sie gibt sich nur noch mit anderer Leute Fehlern ab.” In den meisten Fällen äußert sich die Kritik in einer Neigung zum kleinlichen Tadel, zum Vorurteil und zur Parteilichkeit. Die Christian Science befähigt ihre Schüler, diese Neigung, welcher am allerwenigsten Widerstand geleistet wird, zu analysieren und sie jederzeit zu unterdrücken. Sie macht es ihm klar, daß eine solche Angewohnheit rein selbstsüchtiger Natur ist und daß sie demnach von keinem Gesetz gerechtfertigt noch unterstützt wird. Nicht Liebe und Wohlwollen, sondern Tadelsucht und Zerstörungstrieb bilden in den meisten Fällen die inneren Beweggründe dieser Neigung. Eine solche Kritik ist im günstigsten Fall nur ein unberufener und unwillkommener Gast, der sich in anderer Leute Rechte eindrängt und der nicht weiß, wo und wann er sich um seine eigenen Angelegenheiten bekümmern muß. Es gibt kaum einen Blick, eine Absicht oder eine Tat, die nicht zum Gegenstand der speziellen Kritik gemacht wird. Und wer zieht Vorteil aus einer solchen unberechtigten Gedankentätigkeit? Niemand. Warum geben wir uns dann derselben hin und denken, es könne aus einem solchen Verfahren Gutes entstehen?
Eine zügellose Kritik sollte jedoch nicht mit wohlgemeintem Verweis oder gerechtem Tadel verwechselt werden. Diese haben Kraft und Autorität. Die einzige berechtigte Kritik ist diejenige, welche voll Liebe und Mitleid das Gute im Mitmenschen sucht. Sie verneint und rügt allen Glauben an das Übel, weil dasselbe mit dem Menschen Gottes nichts gemein hat. Sie richtet immer „ein recht Gericht,” weil sie den Christus, die Wahrheit, als den gegenwärtigen Erlöser von jeder Art des Übels anerkennt. Irgend eine andere Kritik ist ungesetzlich und unberechtigt, denn sie setzt das Materielle an Christi Statt, eine rein persönliche Anschauung an Stelle der Wahrheit. Sie hat keine geistigen Gedankenmuster, nach denen sie urteilen könnte; deshalb hängt sie so zäh am Unvollkommenen, Vergänglichen und Unwesentlichen. Sie verwirft allen Glauben an die göttliche Anforderung: „Seid vollkommen,” und vermißt sich, an Gottes Statt Vorschriften zu machen. Sie hängt einen Schleier zwischen sich und Gott und will die Zeugnisse und Gebote Gottes nicht annehmen. Sie hält sich an die Gegenstände der Sinne und verneint die Wirklichkeit dessen, was dem materiellen Wahrnehmungsvermögen unsichtbar ist. Sie ist ein selbstverordneter Feind jeder Richtung, die dem Frieden, der Gerechtigkeit und der Unschuld förderlich ist. Sie versperrt den Weg zur Gesundheit, zur Glückseligkeit und zum Wohlergehen, indem sie uns anstatt Brotes einen Stein bietet.
Wie können wir diese ungöttliche Angewohnheit los werden? Es ist dies für den Schüler der Christian Science eine sehr wichtige Frage. Erst wenn er anfängt, sich von dem alleinigen Sein Gottes und von des Menschen Einheit mit seinem Schöpfer einen Begriff zu machen, wird er über Gott und den Menschen richtig denken. Um dieses und um nichts anderes kämpft die Christian Science. Sie wird sich auch ferner bestreben, nur vollkommene Gedankenvorbilder hochzuhalten, bis die Menschheit einsehen lernt, daß es keinen anderen Weg zum Himmel, zur Harmonie des menschlichen Seins gibt. Wir müssen ein jedes Gedankenvorbild, welches nicht den Charakter der geistigen Vollkommenheit hat, als unzuverlässig erkennen, wenn anders wir das erste Gebot halten und all unsere Zeit und Gedanken Gott widmen wollen. Die Christian Science ermahnt uns, nur solche Vorbilder zu betrachten, die uns Jesus gegeben hat, nämlich die göttliche Idee. Je mehr wir lieben lernen, je mehr wir das Leben Jesu nachahmen und das Böse mit Gutem überwinden, desto mehr nehmen wir teil an dem lauteren, göttlichen Bewußtsein, welches „nicht nach Schaden” trachtet, und welches im Mitmenschen nur Gutes sucht. Dann wird unsere Neigung zur absprechenden Kritik der Vergangenheit angehören, und wir werden uns nur über himmlische Dinge unterhalten, weil unsere Gedanken im Himmel sind.
Möge die Zeit bald erscheinen, in welcher der belebende Geist der göttlichen Liebe alle wahren Christen so erwecken wird, daß sie der göttlichen Anforderung, von anderen so zu denken, wie Gott von ihnen denkt, ernstlicher nachkommen. Sterne sagte: „Lieber alles Geplapper einer plappernden Welt, als das Geplapper des Kritikers!”