Der Schreiber dieses Artikels hatte einst eine Erfahrung, die eine wichtige Lehre für ihn enthielt und die einen tiefen Eindruck auf ihn machte. Als er eines Morgens durchs Fenster schaute, bot sich ihm ein imposanter Anblick dar. Scheinbar nur eine Meile entfernt erhob sich der schneebedeckte Gipfel des Pikes Peak. In der klaren, frischen Luft dieses Februar-Morgens erschienen die kühnen und schroffen Umrisse des hohen Berges so deutlich, daß der Gedanke an die Entfernung beinahe verschwand. Es schien, als könne man den Berg in nur wenigen Minuten erreichen und ihn dann ohne Schwierigkeit bis zur Spitze besteigen. Der Schreiber war früher einmal bis zum Fuße des Berges vorgedrungen; deshalb erinnerte ihn jetzt seine durch die Erfahrung erlangte Beurteilungskraft sehr bald daran, daß ein solches Unternehmen keineswegs leicht sei. Der Fuß des Berges war tatsächlich mehrere Meilen entfernt, und nach Zurücklegung dieser Distanz bleibt erst noch der größere und schwierigere Teil der Reise übrig.
Und nun die Nutzanwendung. Bei der Lösung unserer Lebensprobleme sind die Resultate oft nicht so leicht oder so rasch erreichbar als wir uns anfangs vorgestellt hatten. Es treten uns unvorhergesehene Schwierigkeiten entgegen. Die Entfernung ist größer und die bevorstehende Arbeit schwieriger, als uns zuerst vorkam. Das Ziel ist wünschenswert, die Aussichten sind gut und die Hoffnung wird belebt; wir machen uns aber oft keinen Begriff davon, welch schwere Last wir tragen müssen, ehe das Ziel erreicht ist. Wenn wir dann auf Hindernisse stoßen, welche anfangs unsichtbar waren, und wenn uns klar wird, daß der Erfolg nicht so leicht erreichbar ist, wie wir zuerst gedacht hatten, so werden wir manchmal mutlos und führen dadurch das Mißlingen unserer Bestrebungen herbei. In keinem Unternehmen kann man auf Erfolg rechnen, ehe man alle Schritte getan hat, welche zu dem erwünschten Ziel führen. Ein Reisender, welcher zum ersten Mal die Berge erblickt — besonders auf den wellenförmigen Ebenen des amerikanischen Westens, — ist sehr erstaunt, wenn er hört, daß diese hohen Gipfel wenigstens fünfzig oder sechzig Meilen entfernt sind, denn es kommt ihm vor, als sei die Distanz nicht größer als fünf oder zehn Meilen, und er erklärt: „Es ist nicht möglich!”
Nehmen wir nun an, er entschließt sich, den Gipfel eines der nächstliegenden Berge zu ersteigen. Er macht sich mutig auf den Weg und ist überzeugt, daß er das Ziel bald erreichen werde. Eine Stunde vergeht, und es kommt ihm vor, als ob der Berg gerade so weit entfernt sei wie am Anfang seiner Reise. Auch nach einer weiteren Stunde scheint er seinem Ziele um nichts näher zu sein. Es ist gerade, als ob der Berg vor ihm zurückweiche. Er weiß jedoch, daß das nicht möglich ist, und indem er auf den Punkt seiner Abreise zurückblickt, wird er sich seines Fortschrittes bewußt. Die von ihm festgesetzte Zeit zur Ankunft am Fuße des Berges ist längst verstrichen; aber immer weiter dringt er vor. Es ist ihm jetzt klar, daß seine Aufgabe nicht so leicht ist, als er anfangs dachte; er wird jedoch nicht mutlos, denn er weiß, daß jeder Schritt ihn dem Ziele seiner Reise näher bringt. Zu seiner Verwunderung kommt er an Flüsse, die er kreuzen muß, und noch viele andere Hindernisse, von denen er beim Beginn seines selbstauferlegten Werkes keine Ahnung hatte, treten ihm entgegen. Endlich ist seine Treue belohnt, indem er den Fuß des Berges erreicht. Man sollte nun denken, er habe durch Erfahrung gelernt und werde nicht mehr „nach dem Ansehen” urteilen. Dem ist aber nicht so. Er freut sich, daß er beinahe am Ziele angekommen ist. Es scheint ihm, als sehe er sich schnurstraks den Berg hinansteigen, bis er den Gipfel erreicht hat. So bald hat er vergessen, daß „der Schein der Dinge trügt.”
Nach kurzer Rast macht er sich wieder auf die Reise. Eine Zeitlang geht alles ganz gut, obgleich ihm der Weg steiler vorkommt, als er sich anfangs gedacht hatte. Ganz unerwartet stößt er auf einen turmhohen Felsblock, der seinen Weg versperrt. Es ist ihm unmöglich, diese senkrechte Höhe zu ersteigen, und so sieht er sich gleich am Anfang seiner Bergreise genötigt, von der geraden Richtung, die er geplant hatte, abzuweichen. Er findet jedoch, daß er dieses Hindernis umgehen kann, und freut sich somit eines weiteren Sieges über Schwierigkeiten. Noch oft muß er nach rechts und nach links ausweichen, und es wird ihm klar, daß sein Weg keine gerade Richtung verfolgt, wie er erwartet hatte, sondern daß sich derselbe bald hierhin, bald dorthin, bald rückwärts, bald vorwärts wendet.
Alle Gegenstände, welche seinen Fortschritt hinderten und ihm sogar das Recht, den Bergesgipfel zu erreichen, absprechen wollten, waren schon zu Anfang seiner Reise vorhanden. Er wußte es aber nicht, und es war wohl gut, daß er es nicht wußte. Wie er aus Erfahrung gelernt hat, nimmt nur ein Hindernis auf einmal seine Aufmerksamkeit in Anspruch, und er ist daher besser ausgerüstet, neuen Hindernissen entgegenzutreten. Der Weg war länger, die Schwierigkeiten waren zahlreicher und die Bürde seiner Reise war schwerer als er erwartet hatte; indem er aber jetzt seine Erlebnisse überblickt und darüber nachdenkt, wie viel er gelernt hat, und indem er die Schönheit der Natur ringsum betrachtet und seine Augen gen Himmel erhebt, muß er sich gestehen, daß seine kühnsten Erwartungen mehr als erfüllt worden sind. Die Kosten erscheinen ihm als sehr unbedeutend. Alles, was er zurückgelassen hat, sieht er als ein freiwilliges Opfer an. Er ist zufriedengestellt.
Erst vor kurzer Zeit wanderten viele von uns in der Wildnis des menschlichen Zweifels und der menschlichen Furcht umher. Wir kehrten uns dahin und dorthin, oft ohne ein bestimmtes Ziel im Auge zu haben und nur von dem unbestimmten Wunsche erfüllt, daß sich uns irgend ein Ausweg aus unserer unbefriedigenden Umgebung eröffnen möge. Endlich erschien eine Person, deren Auge schärfer war, und zeigte uns eine Bergesspitze. Zuerst erschien dieselbe nur undeutlich und weit entfernt in der trüben Atmosphäre des zeitlichen und materiellen Begriffsvermögens. Plötzlich verschwanden die Wolken, und in der hellen Mittagssonne erhob sich der Berg Gottes vor unseren Augen. Wie nahe schien er doch zu sein! Wie sehnten wir uns darnach, ihn zu ersteigen und die Welt mit allem was darinnen ist von seinem Gipfel aus zu betrachten! Wie leicht kam es uns vor, und wie herrlich dachten wir uns die Belohnung!
Dieser Berg ist keine materielle Anhöhe, sondern ein erhabener Zustand des geistigen Bewußtseins. Er repräsentiert die Lehre der Christian Science, daß Gott Alles in allem ist; daß Er das eine unendliche Gute, der eine Gott, die einzige Macht und Wirkung, das alleinige Dasein ist; daß man in Ihm die Ursache aller Dinge suchen muß. Unser Lehrbuch „Science and Health“ sagt hierüber: „Alles ist unendlicher Geist und seine unendlichen Kundgebungen, denn Gott ist Alles in allem” (S. 468). Wer möchte nicht diesen Bergesgipfel erreichen! Was würde der Mensch nicht darum geben, wenn er alle Dinge von dem Standpunkte dieses geistigen Existenzbewußtseins aus betrachten könnte!
Als wir unseren Blick gen Himmel richteten, schien uns das Ziel sehr wünschenswert und das Erlangen desselben sehr leicht zu sein. Wir machten uns daher mit mutigem Herzen und mit frohen Liedern auf die Reise. Es war das ganz wie es sein soll, denn wir konnten unmöglich die Schwierigkeiten unseres Unternehmens voraussehen. Bald sahen wir aber ein, daß wir eine ziemliche Strecke zu gehen hatten, bevor wir die eigentliche Bergreise antreten konnten. Viele irrtümliche Ansichten mußten abgelegt und eine Menge menschlicher Meinungen aufgegeben werden, ehe es uns möglich war, unsere wirkliche Arbeit, die Demonstration der Christian Science, in Angriff zu nehmen. Die Entfernung war größer, als wir gedacht hatten. Wie dem Reisenden, so schien es auch uns manchmal, als ob der Berg vor uns zurückweiche, denn dem Anscheine nach waren wir ihm nicht näher als bei der Abreise; indem wir aber zurückblickten und uns alles dessen erinnerten, was wir zurückgelassen hatten, erkannten wir unseren Fortschritt. Die Tragweite und der Zweck der Christian Science imponierten uns bis zu einem gewissen Grade, und ihre Erhabenheit schien uns deshalb so nah und doch so fern.
Endlich erreichten wir den Fuß des Berges. Unsere Gedanken waren nun so weit vergeistigt, daß wir anfangen konnten, die Lehren der Christian Science zu demonstrieren. Vielleicht war der erste Gedanke dieser: „Wenn Gott das unendliche Gute, die einzige Macht und Gegenwart ist, wie kann uns dann das Übel verhindern, den Berg in gerader Richtung zu besteigen?” Wir sehen aber bald ein, daß sich des Irrtums Anspruch auf Verständnis und Macht nicht so ohne weiteres abfertigen läßt. Die Erfahrung hat uns vieles gelehrt, und wir lernen immer noch von ihr. Weit über uns ragt der höchste Punkt des Berges, und oft ist er unseren Blicken beinahe verhüllt; aber wir sehen dennoch unseren Fortschritt. Es wird uns klar, daß wir unmöglich auf einmal den Gesamtbetrag alles Übels als Übel erkennen und dessen Nichtigkeit beweisen können. „Wir müssen ... mit den einfacheren Demonstrationen” der Unwirklichkeit des Übels „anfangen” („Science and Health,“ S. 429). Ungeahnte Hindernisse wollten uns oft den Weg versperren; wir sind jedoch sicher, daß wir auf dem richtigen Pfade sind. Wir wissen, daß wir dem Ende unserer Reise in dem Maße näher kommen, wie wir jeder Versuchung widerstehen, jeden bösen Gedanken austreiben und jede Empfindung körperlicher und geistiger Disharmonie mit der Wahrheit des Daseins überwinden. Der Horizont des Lebens erweitert sich und unser Wunsch, die Höhen der Heiligkeit zu erreichen, wird immer stärker. Wir haben gelernt, daß nicht das, was wir vorgeben, sondern das, was wir tun uns aufwärts führt. Die Christian Science erscheint uns somit mehr und mehr als der vernünftigste und praktischste Gegenstand, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken können. Je höher unser Standpunkt ist, und je treuer wir die auf demselben gewonnenen Lehren in allen Lebensverhältnissen in Anwendung bringen, desto harmonischer gestaltet sich die Gegenwart, und desto heller erscheint die Zukunft. Wir wissen nicht, wann wir auf dem Gipfel des Berges ankommen werden, denn wir haben die Reise erst angetreten. Ferner können wir uns den Menschen und das Weltall jetzt nicht so vorstellen, wie sie uns erscheinen werden, wenn die Gedanken hinreichend geläutert sind und wenn der Mensch demzufolge „Gottes Schöpfung sehen und verstehen kann — die ganze Glorie der Erde, des Himmels und des Menschen” („Science and Health,“ S. 264). Eines wissen wir aber: wir werden uns in einem Zustande der völligen Zufriedenheit befinden.
