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Ist es gerecht?

Aus der Juni 1909-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


In dem interessanten Zwiegespräch zwischen Gott und Abraham, wie wir es im 18. Kapitel des 1. Buches Mosis aufgezeichnet finden, beruht die dringende Vorstellung des Patriarchen auf einer in Frageform ausgedrückten Annahme, die von hoher Bedeutung ist. Er sagte: „Das sei ferne von dir, der du aller Welt Richter bist! Du wirst so nicht richten.” Gewiß stimmen alle Christen Abrahams Annahme bei. In seinen Worten liegt jedoch die Erklärung, daß der erleuchtete Mensch ein Recht hat, sich über die göttliche Wirksamkeit ein Urteil zu bilden. Es entsteht dann die Frage, ob ein Christ sicher annehmen kann, daß ein unendlich gerechtes und gnädiges Wesen nicht das tun würde, was das moralische Gefühl, welches Er dem Menschen eingepflanzt hat, mißbilligen muß.

Da nun allgemein zugegeben wird, daß vieles, was man in der Regel der göttlichen Vorsehung zugeschrieben hat, offenbar ungerecht ist, so bleiben uns nur zwei Auswege offen. Entweder müssen wir annehmen, Gott sei nicht verantwortlich für die Zustände, welche unser moralisches Gefühl als höchst ungerecht bezeichnet, oder wir müssen unser Urteil mit den angeblichen Verfügungen Gottes in Übereinstimmung bringen und den Standpunkt einnehmen, daß eine gewisse Tat ungeachtet des Protestes, den sie erregt, gerecht ist, einfach weil sie eine Tat Gottes ist. Entweder muß die Echtheit unseres moralischen Urteils in Frage gestellt werden, oder es sind die herkömmlichen Ansichten über Gottes Verantwortlichkeit als falsch anzusehen. Von diesem Punkte aus sehen wir eine neue Bedeutung in der Erzählung des Lukas, wie Jesus am Sabbath einer armen Frau begegnete, die achtzehn Jahre lang an einem schlimmen Gebrechen gelitten hatte, und wie er sie aus erbarmungsvoller Liebe heilte. Als ihn dann die Pharisäer, die Verehrer des talmudischen Gesetzes zur Rede stellten, wies er auf das menschliche Mitleid hin, welches einen Ochsen ans Wasser führt, und fügte hinzu: „Sollte aber nicht gelöst werden ... diese ... von diesem Bande?” Mit diesen Worten rechtfertigte Jesus offenbar das vorherrschende moralische Gefühl, welches unwillkürlich darüber urteilt, ob ein bestimmter Zustand gerecht oder ungerecht sei. Er erklärte gleichsam: Wenn ein Mensch sein Vieh vor unverdientem Leiden bewahrt, so ist doch gewiß anzunehmen, daß Gott mindestens ebenso gerecht und liebevoll ist.

Diese Folgerung Jesu ist sehr wichtig in Anbetracht der Tatsache, daß die meisten Christen annehmen, sie hätten kein Recht, das sogenannte „unerforschliche Wirken der Vorsehung” nach demselben sittlichen Maßstab zu bemessen, den sie bei der Beurteilung menschlicher Taten anwenden. Die Versöhnungslehre, zu welcher sich die Christen im allgemeinen bekennen, nimmt an, Gottes Zorn gegen die sündhafte Menschheit sei durch das Leiden einer unschuldigen Person beschwichtigt worden. Angenommen nun, ein irdischer Vater erklärt, er werde einem gewissen Kind nur dann vergeben, wenn ein anderes unschuldiges Kind dafür Prügel erhält, würden sich dieselben Christen nicht dahin äußern, daß eine solche Haltung höchst ungerecht sei und dem gesunden Menschenverstand widerstreite? Wenn menschliche Selbstsucht und Grausamkeit dem Unschuldigen Pein auferlegen, so wird das entschieden verdammt; wenn aber Unwissenheit und menschliche Annahme das Vorhandensein der Pein der Herrschaft Gottes zuschreiben, so beugt sich die Christenheit in tiefster Ergebung und nennt es das unerforschliche Walten des allweisen Gottes.

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