Auf der Spitze eines steilen Hügels oberhalb eines Dorfes in Neu-England steht ganz einsam eine alte weiße Kirche, nach der Bauart vergangener Zeiten aufgeführt. Vorn ruht auf hohen Säulen der Architrav, auf welchem die folgenden Worte eingegraben sind: „Erste Kirche des Christus.” Auf dem einsamen Kirchhofe, der diese Kirche umgibt, befindet sich ein seit langer Zeit vernachläßigtes Grab. Auf dem mit grauem Moos bewachsenen Stein zu Häupten desselben steht die fast unleserlich gewordene Inschrift:
„Trocknet die Tränen, nicht um mich weint!
Ich muß hier liegen, bis Christus erscheint.”
Die Trennung, von welcher diese Zeilen reden, wurde noch schmerzlicher gemacht durch die vermeintliche Notwendigkeit des langen Wartens auf eine weitentfernte Zeit, da Christus erscheinen und die Toten aus den Gräbern hervorrufen würde. Viele Christen glauben heute noch, der Christus, den sie lieben und dem sie vertrauen, sei mit Jesu verschwunden, weil nach ihrer irrigen Auffassung Jesus und Christus gleichbedeutend sind.
In Bezug auf die Lehre über den Christus wurde Jesus zu seinen Lebzeiten wenig verstanden, wie er auch jetzt noch nicht allgemein verstanden wird. Die Christian Science betreibt in unsern Tagen ein großes Werk, indem sie der Christenheit ihr rechtmäßiges Erbe zurückerstattet, nämlich die wahre Erkenntnis eines stets gegenwärtigen Christus, welcher war und ist und stets sein wird, der Heiland, der Befreier der Menschen. Die Christian Science offenbart den Christus, welcher die Menschen von allen Arten des menschlichen Elends, von Sünde und Krankheit, Mangel, Kummer und Schmerz befreit. Jesus wurde dadurch der Heiland, der Befreier der Sterblichen, daß er die heilende, befreiende Macht des Christus lehrte und vor Augen führte. Er sprach: „Ehedenn Abraham ward, bin Ich.” Mit diesen Worten nahm er auf die beständige Gegenwart des Christus Bezug. An andrer Stelle erklärte er: „Abraham ... ward froh, daß er meinen Tag sehen sollte; und er sah ihn und freute sich.” Von Abraham an bis auf Johannes den Täufer erkannten die Propheten die Tatsache an, daß die Christus-Wahrheit eines Tages durch den Messias geoffenbart werden müsse. Obgleich Jesus den Christus so völlig zur Erscheinung brachte, wie es ein Mensch überhaupt vermag, so lehrte er doch nie, daß die Christus-Natur auf ihn allein beschränkt werden könne. Im Gegenteil, er sprach von sich als dem Wege, und die Christian Scientisten erkennen ihn als das vollkommene Vorbild, als den Wegweiser an.
Jesus predigte nicht nur, sondern er führte zugleich die Macht dieser Christus-Wahrheit vor Augen. Er predigte das Evangelium des Friedens, heilte die Kranken, tröstete die Trauernden, bekehrte die Sünder und erweckte die Toten. Weil seine Zeit zu materiell war, um seine Lehren zu verstehen, so mußte Jesus das Kreuz erdulden und sich selbst von den Toten auferwecken. Nach dieser erhabensten Demonstration der Christus-Macht über den Tod wurde Jesus über das Grenzland emporgehoben, wo Geist und Materie sich zu begegnen scheinen, und ließ die Materie hinter sich. Die Christus-Wahrheit war somit völlig bewiesen — für alle Zeiten und für alle Menschen. Das Wiedererscheinen des Christus ist Sache individueller Wahrnehmung der Wahrheit, für welche Jesus starb und durch deren Erkenntnis er auferstand.
Obgleich Jesus in dieser Weise seine Mission auf Erden vollendete, so wußte er doch, daß er zum großen Teil tauben Ohren gepredigt hatte. Er allein erkannte, wie wenig seine Jünger die hohe Bedeutung seiner Lebensaufgabe erfaßt hatten; daher gab er ihnen die Verheißung, daß der Tröster kommen würde, nämlich der Geist der Wahrheit. Dieser Tröster konnte in keiner andern Weise kommen, als in die Herzen der Menschen. Die Christian Scientisten glauben, daß der Tröster bereits gekommen und daß dieser Tröster die Christian Science ist. Sie glauben dies, weil die Christian Science ihre Schüler zu dem rechten Verständnis der Worte des Johannes führt: „Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unsers Gottes worden.” Die Christian Science beweist aufs neue, daß Christus der Weg ist — heute ebenso gewiß, wie vor zwei Jahrtausenden.
Jeder aufrichtige Christian Scientist weiß, daß er eine große Aufgabe vor sich hat. Es ist ihm klar geworden, daß er dem Beispiel des Meisters nach jeder Richtung hin folgen muß. Mrs. Eddy schreibt in ihrem Werk „Science and Health with Key to the Scriptures“ (S. 25): „Die Göttlichkeit des Christus wurde in der Menschlichkeit Jesu kundgetan.” Diejenigen, die ihn als Vorbild anerkennen, müssen die Gegenwart des Christus-Geistes durch die gleiche Menschlichkeit, die in dem Leben des Meisters so sehr hervortrat, zur Anschauung bringen. Diese Menschlichkeit muß sich in der gleichen Sanftmut und Reinheit, in dem gleichen Liebesdienst, in der gleichen mitleidsvollen Haltung andern gegenüber offenbaren. Ferner muß sich diese Menschlichkeit in der Beherrschung des Übels jeglicher Art kundtun — im Austreiben von Krankheit sowohl wie von Sünde. Diese Beweise der Nachfolge Jesu beweisen das Kommen des Christus, wie die Christian Scientisten es auffassen. Sie sagen mit Jesu: „Glaubet mir doch um der Werke willen.”
Da Gott, der Vater, der göttliche Geist (Mind) ist, so muß Christus, der Sohn, die göttliche Idee sein, welche gleichzeitig mit dem Vater besteht. Dieser Tatsache ist sich jeder Christian Scientist bewußt — selbst beim Heilen der allereinfachsten Krankheitserscheinungen. Ferner weiß er, daß der Christus nie geboren wurde und nie starb, da die Wahrheit ewig ist. Er weiß, daß ein jeder die Christus-Wahrheit sich schon hier und jetzt aneignen kann. Selbst ein Christian Scientist, der vorerst nur in geringem Maße die Macht der Christus-Wahrheit über das Übel bewiesen hat, weiß, daß sein Erlöser lebt; er weiß, daß er durch kein Grab hindurch zu gehen braucht, um seinen Erlöser zu erreichen; daß er nicht nötig hat, auf eine Wiederkunft des Christus zu warten, um die Erlösung zu erlangen. Diese Erkenntnis, die sich ein jeder selbst beweisen kann und die „geordnet und bei der Arbeit, im Leben oder auf der Suche nach Wahrheit anwendbar” ist, ist Wissenschaft, wie die Wörterbücher den Begriff Wissenschaft erklären. Sie ist angewandte Wissenschaft. Sie ist göttliche Wissenschaft, weil sie von Gott kommt.
Tausende von Menschen sind durch das, was die Christian Science sie über den Christus gelehrt hat, gesund und glücklich geworden und in blühende Umstände gekommen. Sie sind bessere Männer und Frauen, bessere Bürger, bessere Christen geworden, weil ihr Glaube sich zum Wissen entwickelt, ihre Hoffnung zur Demonstration heranreift, so daß sie den vermeintlich zukünftigen Himmel als die Harmonie der Gegenwart kennen lernen. „Sie beugen sich vor dem Christus, der Wahrheit, um mehr von seiner Wiederkunft zu empfangen” („Science and Health“, S. 35).
Wie bettelarm ein Herz doch bliebe,
Das nur des andern Freude teilt!
Das ist das schönste Recht der Liebe,
Daß sie des Unglücks Wunden heilt!
