Eine der ersten Wirkungen, welche das eingehende Studium der Christian Science auf den Studierenden ausübt, kommt in den Worten Jakobs zum Ausdruck: „Gewiß ist der Herr an diesem Ort, und ich wußte es nicht.” Der Anfänger erfaßt die Wahrheit in der Regel nur allmählich —„da ein wenig und dort ein wenig.” Er glaubt, daß Gott in jeder Not ein stets gegenwärtiger Helfer ist. Obgleich Sünde und Disharmonie überall zu sein scheinen, so weiß er doch, daß er unter dem Schutze Gottes steht und daß Gott mächtiger ist als irgendwelche Art des Übels. Dieser erste Grad des Verständnisses, dieser erste Schritt auf dem Wege nach dem Reiche des Geistes gereicht ihm zum großen Troste. Indem dann seine Gedanken weiter wandern und mehr von der Wissenschaft des Seins entdecken, erkennt er mit dem Gefühl der Ehrfurcht und unaussprechlichen Freude, daß Gott, Geist, allein gegenwärtig ist und daß man Krankheit, Materie, Sünde und Tod bloß als Traumgebilde ansehen darf, die nicht substanziell sind, keinen Raum einnehmen und keine Macht besitzen.
Je klarer ein Christian Scientist diese Tatsache erfaßt hat, desto schneller wird er sie beweisen, denn er „hat sich anwerben lassen, um Übel, Krankheit und Tod zu verringern” („Science and Health“, S. 450), indem er sie als Erscheinungen und nicht als Tatsachen, als Unwirklichkeiten und nicht als Wirklichkeiten ansieht. Die angehende Erkenntnis, daß das Gute überall gegenwärtig ist, geht Hand in Hand mit der dämmernden Überzeugung, daß das Übel nirgends gegenwärtig sein kann. Das Mittel gegen die Furcht vor dem Übel ist die höhere Erkenntnis des Guten und die Betätigung desselben. Überall im Leben ist Kenntnis das Mittel gegen Unwissenheit. Je mehr die Menschheit sich die echten Kenntnisse aneignet, welche ihr die Christian Science bietet, desto mehr wird die glorreiche Allgegenwart von Leben, Wahrheit und Liebe die traurigen Folgen des Glaubens an das Übel vernichten. Wenn wir stets die Verheißung im Gedächtnis behalten würden: „Mein Angesicht soll vorangehen, damit will ich dich leiten”, so gäbe es ebensowenig Kämpfe, als wenn bei Tagesanbruch das Licht die Finsternis verdrängt.
Die göttliche Gegenwart ist eine heilende Gegenwart. Sie ist die Gegenwart der Wahrheit anstatt falscher Vorstellungen, der Liebe anstatt der Furcht, des Friedens anstatt des Schmerzes, der Freude anstatt der Traurigkeit, des Besitzens anstatt des Verlierens, der Substanz anstatt des Schattens. Materie ist eine falsche Annahme in Bezug auf Substanz, ein bequemes Zwischenmittel für den sterblichen Sinn und ein empfindungsloser Genosse desselben. Kann man von einer Lüge sagen, sie sei „gegenwärtig”? Kann Unwissenheit „gegenwärtig” sein? Gewiß nicht; deshalb sind die vermeintlichen Wirkungen der Lüge und der Unwissenheit streng genommen nicht „gegenwärtig”. Sie sind bloß irrige Annahmen in Bezug auf Wirklichkeiten, und falsche Annahmen haben keine Gegenwart. Wirklichkeit ist gegenwärtig, niemals aber Unwirklichkeit, und da das Gute immer und überall gegenwärtig ist, so ist das Übel immer und überall abwesend. Wir gehen somit einen Schritt weiter und erkennen, daß die göttliche Gegenwart die unendliche, die einzige geistig erkennbare Gegenwart ist — die Gegenwart, in welcher wir „leben, weben und sind”. Sie ist insofern eine heilende Gegenwart, als himmlische Eingebungen uns zeigen, daß es in Wirklichkeit kein Übel zu heilen gibt — keine Materie, die krank oder sündhaft gemacht werden kann.
Ist es nun nicht klar, daß Gott nichts vom Übel oder von falschen Annahmen wissen kann, da Er Wahrheit ist? Der Christian Science gemäß ist niemand von der Seligkeit ausgeschlossen; jeder Invalide, jeder Verbrecher in seiner Zelle, wenn er als solcher überhaupt eine wahre Existenz hätte, wäre ebensowohl in der Gegenwart Gottes, wie ein Heiliger. Was verhüllt ihm nun diese Allgegenwart? Nichts andres als der Glaube an das Übel und das Festhalten an diesem Glauben. Es ist zwar scientifisch richtig, daß die Wahrheit des Seins nicht von der Unwahrheit verdrängt werden kann; jedoch der Sterbliche, der beharrlich an der Sünde Anteil nimmt, erleidet das Schicksal Kains, der zeitweilig „ging ... von dem Angesichte des Herrn, und wohnte im Lande Nod”— im Traumlande. Bisher hat das Übel scheinbar die Menschheit unterdrückt; künftighin wird die Menschheit das sogenannte Übel vernichten, und zwar durch die echte, geistige Science oder Wissenschaft, wie Mrs. Eddy sie aufs neue dargelegt hat.
Der Sündendienst mag freiwillig oder unfreiwillig sein. Jesus sagte, das Übel, welches die Sterblichen unfreiwillig begehen, werde „wenig Streiche” zur Folge haben. Gemäß der allgemeinen Erfahrung in der Christian Science ist das Mittel gegen Unwissenheit zugleich das Mittel gegen die „Streiche”. Deshalb sagt der Meister: „Und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.” Wenn man der Wahrheit widersteht, so ist das gewiß die verderblichste Art des Übels; der allvermögende Christus überwindet es jedoch täglich und stündlich. Jesus rügte die ritualistische und körperliche Auffassung von Gott, als er zu der Samariterin sagte: „Glaube mir, es kommt die Zeit, daß ihr weder auf diesem Berge noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten”, und dann erklärte er weiter, daß man den Vater in keiner andern Weise anbeten solle, als „im Geist und in der Wahrheit.” Die andre Art des Gebetes scheint fast wie eine Verehrung Jerusalems oder des Berges — mit andern Worten, eine Verehrung des Ortes der Verehrung. Wir brauchen nicht über die Straße zu gehen noch einen Freund aufzusuchen, ja wir haben nicht einmal nötig das Zimmer zu verlassen, um in der Gegenwart dessen zu sein, „der dir alle deine Sünde vergibt, und heilet alle deine Gebrechen”.
Für Christum Jesum war diese Allgegenwart seines Vaters, des göttlichen Geistes, so wirklich, daß ihn die Erscheinungsformen der Krankheit und Sünde nicht zu täuschen vermochten. Er konnte deren Unwirklichkeit beweisen und tat es fortwährend. Er spiegelte stets den göttlichen Geist und Seine mannigfaltigen Eigenschaften wieder, und da wahre Widerspiegelung kein langer Entwicklungsprozeß ist, sondern ein spontaner und unaufhörlicher Vorgang, so konnte er die Kranken augenblicklich heilen. Für den geistigen Sinn ist das Übel nie wirklich; deshalb kann man mit David sagen: „So muß die Nacht auch Licht um mich sein.” Weil das menschliche Bewußtsein Jesu von der unveränderlichen Klarheit des Christus erleuchtet war, so war das Übel für ihn nichts andres als eine Täuschung. Jesus sah wohl die mannigfachen Kundgebungen des Übels, die ihn zu umgeben schienen, glaubte sie aber nicht, denn sie waren nur Nachahmungen der allgegenwärtigen Wahrheit. Der Christus kann diese Ansprüche des Übels gerade so wenig sehen, wie das Licht die Dunkelheit sehen kann, welche es vertreibt.
Die Sterblichen müssen mehr geistig gesinnet sein, um sich der Nähe Gottes bewußt zu werden, um durch dieselbe zu gewinnen und um das rechte Vertrauen zu derselben zu erlangen. Jesus hatte deshalb einen solch großen Erfolg, weil er ein großes Vertrauen hatte. Er unterwies seine Jünger im Gottvertrauen, als er sie ohne Geld, Nahrung und Extrakleidung aussandte. Sie sollten die Kranken auf geistigem Wege heilen, sollten dabei das Vertrauen haben, daß ihnen ihre zeitlichen Bedürfnisse zukommen würden, „denn ein Arbeiter ist seines Lohns wert.” Gewissermaßen war dies auch eine Unterweisung für diejenigen, welche von den Jüngern Wohltaten empfingen.
Den fünf physischen Sinnen scheint Geist niemals gegenwärtig zu sein, während für die geistigen Sinne Geist niemals abwesend ist. Christus Jesus, der den Geist ohne Maß hatte, fühlte daher die Gegenwart und Macht Gottes bei jeder Gelegenheit — am Ufer des Meeres, in der scheinbaren Gegenwart der Kranken, inmitten der hungrigen Menge, auf dem stürmenden Meere, beim Verhör vor den Pharisäern und am Grabe seines Freundes Lazarus. Während andre sich von Materie, Hungersnot, Verbrechen, Krankheit, Wahnsinn und Tod umringt glaubten, schritt Jesus ruhig und gelassen in der friedlichen und vollkommenen Welt des Geistes einher. Die Gegenwart Gottes galt allen Menschen; aber nur er erkannte sie, und zwar war sie für ihn so wirklich, daß er in den als Wunder bekannten Taten göttliche und ewige Tatsachen sofort zur Veranschaulichung bringen konnte. Das sogenannte physische Heilen wird in Mrs. Eddys „Rudimental Divine Science“ (S. 2) als „das Hornsignal zum Denken und Handeln in den höheren Reihen der unendlichen Gutheit” bezeichnet.
Da Gott an jedem Ort ist, so ist das Übel als eine Wesenheit an keinem Ort. Mrs. Eddy schreibt: „Das Übel ist weder Qualität noch Quantität; es ist keine Intelligenz, keine Person, kein Prinzip, kein Mann, kein Weib, kein Ort, kein Gegenstand, und Gott hat es nun und nimmer erschaffen” („Messages to The Mother Church“, S. 48). Haß, Furcht, Selbstsucht usw. sind also keine Qualitäten, sondern bloß falsche Annahmen, die das erleuchtete menschliche Denken nicht gefangen halten können. Wenn nun das Übel keine Quantität ist, kann es dann überhaupt gegenwärtig sein? Ein Berg oder ein Atom sind Quantitäten (vom materiellen Standpunkte aus betrachtet). Ist nun das Übel, materiell betrachtet, nicht einmal ein winziger Punkt, den man unter dem Mikroskop wahrnehmen kann, so besteht absolut nichts, was sich als Krankheit entwickeln oder als solche weiterpflanzen könnte. Angenommen, man würde sich noch so sehr bemühen, eine Null zu multiplizieren: könnte man dadurch auch nur den kleinsten Bruchteil einer Zahl erzielen? Selbst mental aufgefaßt, ist das Übel keine Quantität und hat nie einen Anfang gehabt, denn „göttlicher Geist (Mind) erschafft und regiert alles, vom mentalen Molekül bis zum Unendlichen” („Science and Health“, S. 507). Es befindet sich auch nicht der kleinste Bruchteil von Sünde in der Schöpfung, wie Gott sie sieht, und die monströse Vorstellung, Furcht genannt, kann nicht in dem Bewußtsein dessen verweilen, der ihr Auflösungsmittel, die göttliche Liebe, getreulich reflektiert.
Wenn wir uns ernstlich bemühen, die Wahrheiten solcher Darlegungen zu erfassen, so wird uns die göttliche Gegenwart mehr wirklich, mehr verständlich und im täglichen Leben mehr offenbar. Wir lernen die himmlische Tatsache kennen, daß die ganze Schöpfung in Gott lebt, sich bewegt und atmet, und „die Fülle des, der alles in allen erfüllet”, beginnt unser individuelles Bewußtsein zu erfüllen und Furcht und irrige Vorstellungen aus demselben zu vertreiben. Das Übel weicht nur der echten Gutheit und der scientifischen Erkenntnis; deshalb sind Reinheit und Inspiration die beiden Erfordernisse bei der Ausübung der Christian Science. Paulus sprach aus Erfahrung, als er die Ansprüche des Übels aufzählte, die ihn nicht scheiden konnten „von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist”. Liebe muß jedoch in Liebe wiedergespiegelt werden. Es bleibt daher einem jeden Schüler dieser Wissenschaft überlassen, durch die Erkenntnis der Wahrheit alle scheinbaren Hindernisse auf dem Wege zur Gerechtigkeit zu überwinden und ernstlich bestrebt zu sein, „teilhaftig” zu werden „der göttlichen Natur.” Wenn er dies tut, wird er mit der Zeit die große Wahrheit seines eignen geistigen Seins und die Allgegenwart des göttlichen Geistes (Mind) demonstrieren.
