Das sterbliche Dasein ist ein Zustand der Selbsttäuschung und nicht die Wahrheit des Seins”, sagt Mrs. Eddy („Science and Health“, S. 403). Das trügerische Wesen gewisser Phasen der menschlichen Erfahrung ist einem jeden klar. Der Traum während des Schlafes versetzt uns in eine Welt phantastischer Formen und Zustände, welche zwar von dem Traum-Standpunkte aus wirklich erscheinen, deren Unwirklichkeit aber sofort offenbar wird, wenn die normaleren Bedingungen des wachen Zustandes wieder zur Geltung kommen. Gleicherweise scheint auch derjenige, der sich der Annahme einer durch einen andern ausgeübten hypnotischen Macht unterwirft, Gegenstände zu sehen und zu fühlen, die tatsächlich nur als Illusionen eines abnormen Bewußtseins bestehen. Ein Geisteskranker kann sich in dem Wahne befinden, er sei von Teufeln besessen oder er befinde sich auf einer Reise in fernen Ländern, obgleich seine Erfahrungen reine Einbildungen sind. Ferner liefern Halluzinationen und abergläubische Annahmen der verschiedensten Art ein treffendes Beispiel für die regel- und gesetzlosen Neigungen des sogenannten menschlichen Geistes, wenn auch in geringerem Grade. Keine Art des Sinnenwahnes erscheint demjenigen Bewußtsein, in dem er herrscht, als solcher. Der Umstand, daß die Menschheit sich einen gewissen Maßstab zurechtgelegt hat, demgemäß sie sich selber Vernunftmäßigkeit, Normalität und Untäuschbarkeit zuerkennt, ist kein Beweis, daß sie im wahrsten und höchsten Sinne ein Recht dazu hat.
Eine solche Folgerung erfüllt nur die Anforderung der menschlichen Annahme. Obschon die Welt keinen zwei Menschen unter den anderthalb Milliarden Einwohnern des Erdballs ganz gleich erscheint, so ist doch in der Regel ein jeder völlig überzeugt, daß seine Auffassung der Dinge im wesentlichen richtig ist. Der Umstand, daß bestimmte Ansichten allgemein vertreten worden sind, beweist keineswegs ihre Richtigkeit, denn viele der gröbsten Irrtümer haben die größte Verbreitung gefunden. Wenn also fast jedermann das materielle Dasein für wirklich und echt hält, so folgt daraus noch nicht, daß dies tatsächlich der Fall ist. Das Denken muß danach streben, in gewissem Maße den beschränkten Gesichtspunkt und die engen Grenzen der materiellen Annahmen zu verlassen; erst dann wird es das Wesen des wahren Seins und die Unwirklichkeit und Traumartigkeit des als sterbliches Dasein erkannten Zustandes erkennen. Wir bezeichnen einen Traum nicht deshalb als unwirklich, weil alle Einzelheiten desselben notwendigerweise vernunftwidrig sind, sondern weil der Standpunkt, von dem aus das Phänomen als ganzes gesehen wird, ein falscher ist. Ebenso verhält es sich Mit der materiellen Welt, welche die Tagesträume der Sterblichen bildet. Obgleich die Natur, selbst wenn man sie materiell auslegt, Elemente der Schönheit, der Ordnung und Echtheit zu besitzen scheint, so erweist sich doch die ganze Vorstellung vom Leben auf materieller Grundlage als unlogisch, als ein Widerspruch in sich selbst, wenn man die Welt vom Standpunkte des Daseins eines Schöpfers aus betrachtet, der unendliche Weisheit, Macht und Liebe ist.
Vor beinah zweitausend Jahren erregte ein galiläischer Reformator den Hohn und die Feindseligkeit der Gelehrten sowohl wie der Ungebildeten, indem er darauf bestand, daß die allgemein gültigen Lehren über das Weltall falsch sind, daß die Schöpfung in Wirklichkeit geistig und die materiell erzeugte und entwickelte Ordnung der Dinge nur ein trügerischer Schein ist, der auf einer ungeistigen Grundlage entsteht. Ferner bewies er die Wahrheit seiner Anschauung durch seine Werke, welche dem Gedanken seiner Zeitgenossen zufolge die allgemeine Naturordnung umzustoßen schien. Die normale, wirkliche Ordnung der Dinge, wie Gott sie festgestellt hat und wie sie dem geistig erweckten Blick erscheint, nannte er „das Reich Gottes”. Er erklärte ferner, daß diese Ordnung der Dinge stets vorhanden ist, um von dem Menschen erkannt zu werden; daß Substanz, Gesetz und Ordnung geistig und harmonisch sind, und daß das Weltall nur deshalb der Disharmonie, dein Übel, der Sünde, der Krankheit und dem Tode unterworfen zu sein scheint, weil die Sterblichen es wegen ihres abnormen Gesichtspunktes nicht richtig sehen. Gewiß sah er das Übel in seinen mannigfaltigen Erscheinungsformen; aber er durchschaute es als einen Betrug, als eine unwirkliche Darstellung einer vermeintlichen Macht, die nicht auf Wahrheit beruht. Er verwarf den materiellen Begriff vom Dasein als unnatürlich, widerrechtlich und den Tatsachen nicht entsprechend — kurz, als das Werk des „Teufels”, den er als die Verkörperung der Falschheit, der Täuschung und des Trugs, als einen „Lügner” und einen „Vater derselbigen” bezeichnete.
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