Eine genaue Beobachtung der menschlichen Natur läßt die Neigung erkennen, das Übel hervorzuheben und das Gute herabzusehen. Wie ist diese Absonderlichkeit in den moralischen und religiösen Anschauungen unsrer Zeit zu erklären? Handelt es sich hier um ein gottgewolltes inneres Streben? Ist dasselbe in dem göttlichen Wesen begründet? Gibt es ein Gesetz, das diesem Streben Gültigkeit verleiht oder dasselbe aufrecht erhält?
Zu denjenigen, die bereit waren, die einzig richtige Antwort auf solche Fragen zu vernehmen, sagte Jesus: „Und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.” „Er kannte sie alle”, und seine Mission auf Erden bestand darin, die menschliche Natur zu erheben und der Menschheit zu zeigen, wie sie alles, was dem Guten nicht entspricht, ablegen kann. Er wußte, aus welchen Elementen die sterbliche Natur besteht, und wies niemals auf Gott als auf den Schöpfer derselben hin. Er sagte in nicht mißzuversteheuder Sprache, das Übel sei eine selbsteingesetzte Lüge und bilde keinen Teil der Wahrheit von des Menschen Sein; der wirkliche Mensch sei „von oben her”, die sterbliche Mentalität oder das sterbliche Bewußtsein hingegen „von unten her”. Seine Lehren ziehen durchweg eine scharfe Abgrenzungslinie zwischen Unsterblichkeit und der Annahme von Sterblichkeit. Er lehrte nicht, daß sich das Gute und das Böse in Ursache und Wirkung verschmelze, sondern trennte den Weizen von der Spreu in der wirksamsten Weise und erklärte ganz deutlich, böse Gedanken hätten im Gemüte der Sterblichen oder im verkehrten menschlichen Sinn ihren Ursprung, nicht in Gott. Aus diesen und noch andern biblischen Aussprüchen zieht die Christian Science den Schluß, daß die sterbliche Mentalität „nicht vom Vater, sondern von der Welt ist”; daß, um mit Paulus zu reden, nicht diejenigen „Gottes Kinder” sind, „die nach dem Fleisch Kinder sind”, da kein materielles, böses oder sterbliches Element von Gott kommt; daß Gott nicht der Urheber eines Gesetzes ist, das irgend etwas Seinem eignen Wesen Entgegengesetztes aufrecht erhält, und daß Ihm die Mentalität, die eine „Feindschaft ist wider Gott”, nicht zugeschrieben werden kann.
Wenden wir uns für einen Augenblick den herrschenden religiösen Anschauungen zu. Was finden wir da? Vor allem das hartnäckige Bestreben, das Übel gut zu nennen und es tausendfach auf Kosten des Guten zu vergrößern. Wir sehen allerwärts den Hang, Übles zu denken, es zu erwarten, es zu prophezeien und sogar sein Eintreten in den verschiedenartigsten Formen zu fordern. Danach kommt die widersinnige Annahme, daß ein allwissender Gott das Übel kennen und sehen müsse, um den Kampf mit demselben aufnehmen zu können; daß Gott für die Existenz des Übels moralisch verantwortlich sei; daß deswegen alles menschliche Leiden als Seinem Willen entsprechend angesehen werden müsse, und daß die Menschen trotzdem um Erlösung von diesen Leiden zu bitten hätten. Ferner wird angenommen, der Mensch habe ein doppeltes Wesen, für welches natürlich Gott verantwortlich gemacht wird; Gott habe den Menschen mit fünf körperlichen Sinnen ausgestattet, obgleich diese von Geist keinerlei Kenntnis nehmen und obgleich ihr Zeugnis die einzig mögliche Grundlage für den Glauben an das Übel bildet. Was könnte aber auch das sterbliche Bewußtsein, dessen Blicke stets auf dieses trügerische Panorama gerichtet sind, andres bieten, als einen verstärkten Sinn für die unzähligen Formen des Übels!
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