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Gutes Beispiel

Aus der Januar 1912-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Ein gutes Beispiel ist das Wort, das Fleisch geworden ist; es ist das gnädige, den Sterblichen verständliche Ausdrucksmittel Gottes. Die stille, stetige Mahnung eines guten Beispiels sollte unser Denken in metaphysische Bahnen lenken. Wenn wir z. B. bei einem Menschen eine geistige Überlegenheit wahrnehmen, die wir selbst nicht zu besitzen vermeinen, so genügt es nicht, diese Überlegenheit einfach zu bewundern. Wir müssen tiefer eindringen und mit Liebe und Andacht nach dem Grund unsrer Bewunderung forschen, um aus der gottgesandten Botschaft wahren Nutzen zu ziehen. Es gibt Eigenschaften, die in allen Herzen einen Widerhall finden. Vor der aufrichtigen, spontanen, freudigen und zugleich tiefen Liebe, vor der unpersönlichen, allumfassenden Liebe beugen sich alle entgegengesetzten Eigenschaften in Ehrerbietung. Liebe erweckt in dem mit Gott noch nicht in Einklang stehenden Herzen ein sehnendes Verlangen, aus dem nur Gutes entspringen kann.

Wohl dem, der nicht bei bloßer Bewunderung oder bloßem Sehnen stehen bleibt, sondern tiefer eindringt und von der Wirkung auf die Ursache schließt; der sich die Lehre zu Herzen nimmt und die eignen Schwächen aufdeckt. Ein solcher wird des vollen Segens teilhaftig. Jeder Mensch, der Metaphysiker zu sein beansprucht, sollte gewohnheitsmäßig auf Ursachen zurückgehen. Wir dürfen die an einem Mitmenschen wahrgenommenen Eigenschaften, die unser höchstes sittliches Empfinden ansprechen, nicht unbeachtet vorübergehen lassen, sondern müssen sie beobachten, müssen sie bis zu ihrem göttlichen Ursprung verfolgen. Schon allein dadurch machen wir sie uns in gewissem Grade zu eigen. Solche Gelegenheiten nicht wahrnehmen hieße, die nötige Wachsamkeit außer acht lassen und den Samen auf steinigen Boden säen. Wir wollen also wachsam sein. So oft wir bei andern Eigenschaften bemerken, die einen erhebenden, läuternden Einfluß auf uns ausüben oder in uns das Gefühl eines stillen Vorwurfs erwecken, ist das für uns ein himmlischer Bote, von dem wir nicht eher lassen sollten, als bis wir von ihm den vollen Segen empfangen haben. Durch die richtige Schätzung des Wertes einer solchen Erfahrung entsteht in uns das Gefühl unaussprechlichen Dankes gegen Gott und gegen den betreffenden Menschen, der das göttliche Wesen widerspiegelt. Oft sind wir geneigt, in gleichgültigem Tone oder gar mit einem Gefühl der Mißgunst zu erklären: „Nun, er hat ja ganz angenehme Manieren”, oder was dergleichen Äußerungen mehr sind, ohne zu bedenken, daß uns diese Manieren nicht berührt hätten, wenn sie oberflächlich gewesen wären, und daß gute Manieren im Grunde genommen der äußere oder sichtbare Ausdruck innerer Vorzüge sind.

Wir müssen uns ferner hüten, sofort den Ruf „Persönlichkeit” ertönen zu lassen, wenn wir Leuten begegnen, denen andre in Liebe zugetan sind, denn wir setzen damit nicht nur Eigenschaften herunter, die im innersten Wesen Gottes ihren Ursprung haben, sondern legen vielleicht einem Wahrheitssucher, der sich durch größere Demut auszeichnet, als wir sie besitzen, ein Hindernis in den Weg. Überdies fügen wir uns dadurch selber den größten Schaden zu, indem wir listigen, den Charakter schädigenden Elementen, wie Neid und Heuchelei, Einlaß gewähren. Wir wollen niemals vergessen, daß Gutheit sowie ein geistiger Sinn anziehend wirken, ja wirken müssen, weil sie die Widerspiegelung des göttlichen Wesens sind, und daß unser Wesen um so anziehender wirkt, je mehr Gutheit wir zum Ausdruck bringen.

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