Man liest gegenwärtig sehr viel in religiösen Zeitschriften und in der Tagespresse über die wahre Aufgabe der Religion. Diese Erörterungen werden zweifellos durch die sich immer mehr verbreitende Erkenntnis hervorgerufen, daß der Formalismus in der Religion nie und nimmer dem innersten Bedürfnis der Welt nach etwas Lebendigem oder Lebenspendendem entgegenkommen kann, und diese Tatsache kann durch das blinde Bestreben, einen ausgetretenen Weg weiter zu verfolgen, nicht verdunkelt werden. Das erkannte schon siebenhundert und fünfzig Jahre vor Beginn der christlichen Zeitrechnung der Prophet Jesaja, da er schrieb: „Bringet nicht mehr Speisopfer so vergeblich, das Räuchwerk ist mir ein Greuel; Neumonde und Sabbate, da ihr zusammenkommet, Frevel und Festfeier mag ich nicht.” Dann fährt er fort: „Laßt ab vom Bösen; lernet Gutes tun”. So hat die Forderung des geistigen Sinnes zu allen Zeiten gelautet. Als Beleg dafür, daß die Menschheit allmählich zu der Erkenntnis ihres Bedürfnisses einer klaren und bestimmten Auffassung von der Religion erwacht, führen wir folgenden Ausschnitt aus einem der führenden Blätter im Staate Michigan an:
Ich wünsche, ein jeder Pastor würde einmal im Jahre eine Predigt über das Wirken der Religion halten —über ihren Platz in der Welt, ihre Ziele und Aufgaben. Dies wird wohl in den Seminarien gelehrt; aber nicht nur diejenigen, die sich dem Predigtamt widmen wollen, müssen über diese Punkte unterrichtet werden, sondern auch das Volk im allgemeinen. Der Handwerker, der Redakteur, der Künstler, der Schriftsteller, der Wissenschafter, der Politiker, der Dozent, der Lehrer — sie alle können der Welt ihre Existenzberechtigung beweisen, und dasselbe sollte auch der Religionslehrer tun können. Die Diener der Industrie, der Kunst, der Literatur, der Wissenschaft, die Diener der Gelehrsamkeit, der Häuslichkeit — und eine von diesen Bezeichnungen paßt auf einen jeden von uns —, können ohne Schwierigkeit ihre Stellung, ihre Rechte und ihre Dienste der Welt gegenüber nachweisen, und ich möchte die Geistlichkeit von Detroit ersuchen, doch um ihrer selbst willen, dasselbe zu tun.
Der Artikel, dem der obengenannte Ausschnitt entnommen ist, behandelt sodann eingehend und streng sachlich den Gedanken, daß man auf Gehorsam gegen die von der Kanzel verkündete Wahrheit bestehen und deren praktische Anwendung den Menschen ans Herz legen müsse. Hier werden wir an das erste öffentliche Auftreten Christi Jesu als Religionslehrer erinnert, da er in der Synagoge zu Nazareth die folgenden eindrucksvollen Worte aus dem Propheten Jesaja vorlas: „Der Geist des Herrn ist bei mir, darum daß er mich gesalbet hat; er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, und zu verkündigen das angenehme Jahr des Herrn.” Welch ein wunderbar reichhaltiger Gottesdienst! Aber damit begnügte sich der große Lehrer nicht, sondern er wies seine Zuhörer auch hin auf die früheren Demonstrationen des geistigen Gesetzes, auf die Reinigung des Aussätzigen und die Erweckung des Sohnes der Witwe. Als er das heilige Buch zutat, sagte er: „Heute ist diese Schrift erfüllet vor euren Ohren.” Wo er auch hinging, erfüllte er die Schrift, und führte ihre volle Anforderung seinen Zuhörern zu Gemüte. Dem Berichte zufolge waren jedoch seine Zuhörer bei dieser Gelegenheit nicht geneigt, die Botschaft der Wahrheit anzunehmen, sondern sie gerieten in Zorn und versuchten ihn zu töten.
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