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Die Herrschaft der Christus-Idee und Kirchenherrschaft

Aus der Mai 1912-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Als Paulus schrieb: „Nun aber sind wir vom Gesetz los und ihm abgestorben, das uns gefangen hielt, daß wir dienen sollen im neuen Wesen des Geistes, und nicht im alten Wesen des Buchstabens”, und weiter: „So bestehet nun in der Freiheit, damit uns Christus befreiet hat, und lasset euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen”, so gab er offenbar der Demokratie des Neuen Testaments gegenüber der Theokratie des Alten Testaments den Vorzug und setzte den zwischen beiden bestehenden Unterschied des näheren auseinander. Ferner gab er seiner tiefen Teilnahme für das zukünftige Wohl derer Ausdruck, die mit ihm den freimachenden Einfluß des Evangeliums gegenüber dem Gesetz an sich erfahren hatten.

Dem aufmerksamen Leser des Neuen Testaments kann nicht entgehen, daß sämtliche Verfasser den zwischen dem Religionssystem des Alten und des Neuen Testaments bestehenden Unterschied beständig im Auge behielten, und daß sie stets bestrebt waren, den Unterschied klar zu machen zwischen dem von Moses eingeführten und von dem jüdischen Volk geübten Religionssystem einerseits, und Jesu Lehren, die der Welt eine völlig neue Aussicht eröffneten, andrerseits. Unter der alten Ordnung waren die Leute nicht zu der Anschauung gekommen, daß der Schöpfer sie mit der Fähigkeit und dem Verständnis ausgestattet habe, als Einzelwesen ihre Seligkeit zu bewirken. Sie dachten, es seien zu diesem Zweck für sie bestimmte Gesetze und feierliche Bräuche eingeführt und ein besonderer Stand, nämlich ein amtierendes Priestertum, gegründet worden. Als Einzelwesen, meinten sie, hätten sie nichts weiter zu tun, als den Anforderungen der Kirche nachzukommen. Die Kirche stand in allen Dingen an erster Stelle und wurde als eine auf Befehl der Gottheit gegründete, also göttliche Einrichtung betrachtet, die ihrer Ansicht nach den Zweck hatte, auf einem bestimmten Wege für die Menschen etwas zu vollbringen, was man von diesen nicht erwarten könnte, weil ihnen von Natur aus die Fähigkeit dazu abginge. Der Kirche wurde als einer vom Schöpfer auf Erden gegründeten Einrichtung absolute und endgültige Autorität zuerkannt. Sie beanspruchte auch allgemeine Anerkennung und war in den Augen aller ein göttlich ersonnener und eingesetzter Verband, der das Werk der wahren Religion auf Erden zum alleinigen Betrieb in Beschlag nahm.

Anstatt nun als Zeugnis für die geistige, im menschlichen Herzen empfundene Liebe gegen Gott und den Menschen zu dienen, artete das in den zehn Geboten dargelegte moralische Gesetz unter dieser religiösen Unterweisung in äußere Förmlichkeit aus. Doch fehlte es nie an protestierenden Reformatoren. Bei den Juden waren es die Propheten. Sie besaßen den wahren Religionssinn, und durch sie ertönte die mahnende und warnende Stimme der Wahrheit. Sie sahen die Unzulänglichkeit und das völlige Versagen eines materiellen Systems, wo es galt die Menschen höher zu führen, und erkannten, daß dasselbe, anstatt befreiend zu wirken, den Menschen die Fähigkeit zur Selbstregierung nahm und sie in die Knechtschaft führte; daß dieses System ferner dazu angetan war, die Menschen ihres selbständigen Urteils und ihrer Initiative zu berauben, sowie ihr geistiges Wahrnehmungsvermögen zu verdunkeln oder verkümmern zu lassen. Das System war beschränkend, äußerlich, geistlos. Der Prophet Jeremia sah die Zeit klar voraus, da ein jeder seine eigne Arbeit in der Religion tun muß, und zwar durch Befolgung einer für die Menschen verständlichen und praktisch anwendbaren Lehre, derzufolge sie sich zur Erfüllung der ihnen zufallenden Aufgaben und Pflichten nicht auf die Riten und Zeremonien der Kirche, noch auf ein diensttuendes Priestertum verlassen sollten. So schrieb er denn im Tone göttlicher Autorität: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich ... einen neuen Bund machen. Nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit den Vätern machte, ... sondern das soll der Bund sein, den ich ... machen will ...: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben, und in ihren Sinn schreiben; ... Und wird keiner den andern, noch ein Bruder den andern lehren und sagen: ‚Erkenne den Herrn‘, sondern sie sollen mich alle kennen, beide, klein und groß”.

Der Prophet Jesaja sah ebenfalls das Ende des theokratischen Systems voraus. „Was soll mir”, so schreibt er, „die Menge eurer Opfer? spricht der Herr. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fetten von den gemästeten und habe keine Lust zum Blut der Farren, der Lämmer und Böcke. ... Wer fordert solches von euren Händen, daß ihr auf meinen Vorhof tretet? Bringet nicht mehr Speisopfer so vergeblich. Meine Seele ist feind euren Neumonden und Jahrfesten; ... tut euer böses Wesen von meinen Augen”. „Zu der Zeit wird sich der Mensch halten zu dem, der ihn gemacht hat, ... und wird sich nicht halten zu den Altären, die seine Hände gemacht haben”. „Kommet nun, ihr vom Hause Jakob, laßt uns wandeln im Licht des Herrn!” Der Prophet Amos widersetzte sich ebenso entschieden aller Förmlichkeit, mit der Begründung, daß der Einzelne seine Erlösung durch individuelle Rechtschaffenheit oder Geradheit des Charakters bewirken müsse. Auf das Geheiß Jehovas schreibt er: „Ich bin euren Feiertagen gram, und verachte sie, und mag eure Versammlungen nicht riechen. Und ob ihr mir gleich Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen dran; ... Tue nur weg von mir das Geplärr deiner Lieder; ... Es soll aber das Recht offenbart werden wie Wasser, und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom.”

So wurde die durch Jesus eingeleitete neue Ära der Demokratie, die das alte theokratische System aufhob, vorausgeahnt. Dem System zufolge, das Jesus einführte, war Erlösung gleichbedeutend mit moralischer Kraft, Geistigkeit, zunehmender Charakterstärke und Reinheit des Denkens. Durch Fortschritt beim Bilden des individuellen Charakters, d. h. durch ein verbessertes Menschentum, wird, seiner Lehre nach, der Weg für die Erlösung vorbereitet. Diese Errungenschaft wird nur insofern zum wirklichen, beglückenden Besitz des Einzelnen, wie sie das Ergebnis seines eignen intelligenten Erfassens und zielbewußten Strebens ist. Wenn er seine Aufgabe versteht und die Mittel zur Lösung derselben kennt, dann können die abergläubischen Befürchtungen nicht eindringen, die sich so leicht einem blinden Glauben zugesellen, der nur auf das Geheiß und den Vorschriften andrer entsprechend tätig ist. Die Religion Jesu erweist sich als wissenschaftlich und führt bei folgerichtiger Anwendung, wie Jesus bewies, zur Heilung von Krankheit und Sünde.

Durch sein individuelles Verständnis brachte Christus Jesus ein wissenschaftliches Bewußtsein von dem Wesen Gottes zum Ausdruck. Wir sehen, wie er den Menschen das Dasein Gottes, Sein Wesen, Seine Eigenschaften, Seine Allheit beständig erklärte und erläuterte, wie er sie ermahnte, dieses Ideal im täglichen Leben hochzuhalten und sich von demselben leiten zu lassen. Durch treues Streben in dieser Richtung würden sie an den Früchten erkennen, ob seine Worte wahr seien oder nicht. Dies war die Grundlage, auf der er seine mächtigen Werke tat, und in seiner Bergpredigt gab er seinen Hörern die Zusicherung, daß alle ihre Bedürfnisse befriedigt werden würden, wenn sie das geistige Verständnis seiner Erklärungen von Ursächlichkeit, d. h. von Gott, zur Richtschnur ihres Lebens machen wollten. Bloßes Formenwesen galt ihm niemals als ein Mittel zur Förderung rechtschaffenen Wesens. Er wußte, daß es den Betenden in einen Zustand der Selbstgerechtigkeit und Härte des Herzens hineintäuscht.

Als die Pharisäer Jesus fragten: „Warum wandeln deine Jünger nicht nach den Aufsätzen der Ältesten, sondern essen das Brot mit ungewaschenen Händen?” lautete seine Antwort: „Wohl sein habt ihr Gottes Gebot aufgehoben, auf daß ihr eure Aufsätze haltet.” Und auf die Anklage, er setze sich über die Lehre des Moses hinweg, erwiderte er, seine Lehren hätten nicht den Zweck, jene aufzuheben, sondern sie zu erfüllen. Die Berichte sagen aus, das Volk habe seine Lehre freudig aufgenommen und habe erkannt, daß sie von einem Menschen komme, der „Gewalt” hatte, und nicht redete „wie die Schriftgelehrten” [Züricher Bibel], die, wie Jesus sagte, gerne standen und beteten in den Schulen und an den Ecken auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten gesehen würden. Stets rühmte er Moses und die Propheten, und wenn er sich tadelnd äußerte, so galt sein Verweis den Heuchlern, die deren Lehren verkehrt hatten. Die Schriftgelehrten und Pharisäer verzehnteten, wie er erklärte, die Minze, Till und Kümmel, und ließen dahinten das Schwerste im Gesetz, nämlich das Gericht, die Barmherzigkeit, den Glauben. Er führte ihnen die Prophezeiung des Jesaja an: „Dies Volk nahet sich zu mir mit seinem Munde, und ehret mich mit seinen Lippen; aber ihr Herz ist ferne von mir”.

Aus einem sorgfältigen Studium des Neuen Testaments ergibt sich, daß alle späteren apostolischen und kanonischen Verfasser, wie z. B. Paulus, Johannes, Petrus und Jakobus, das gleiche Verständnis von dem erlangt hatten, was der Meister über diesen Gegenstand lehrte. Keine Zeile in ihren Schriften kann mit Recht als eine Anerkennung von Riten und Zeremonien ausgelegt werden. Sie erklären alle einstimmig, daß Gehorsam gegen die Lehre Jesu der Tätigkeit des früheren priesterlich-vermittelnden Systems ein Ende macht und die Kenntnis der Erlösung als einen individuellen Besitz mit sich bringt. Die Menschen stehen nicht mehr unter besonderer Aufsicht, sondern erkennen, daß der Mensch das ihm von Gott verliehene Recht sowie die Fähigkeit besitzt, seine eigne Seligkeit zu schaffen; und diese ans Licht gebrachte Tatsache eröffnet der Menschheit einen neuen Ausblick. Durch diesen neuen, diesen lebendigen Weg ist ein jeder Mensch ein König und Priester vor Gott. Jeder Mensch muß selber vor Gottes Angesicht treten und über sich selbst Gott Rechenschaft geben. Die vermittelnde Tätigkeit von Kirche und Priester hat somit ein Ende. Paulus schreibt: „Da aber die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn, ... auf daß er die, so unter dem Gesetz waren, erlöste, daß wir die Kindschaft empfingen.” Der Mensch ist also nicht mehr Besitztum der Kirche oder des Priesterstandes, sondern sein eigner Herr; er ist von Christus Jesus gelehrt worden, was er zu seiner Erlösung selbst tun muß. Auf diese freie Gabe haben alle Menschen Anspruch, und wir lesen, „daß wir tüchtig sind, ist von Gott, welcher uns auch tüchtig gemacht hat, das Amt zu führen des Neuen Testaments, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist machet lebendig.”

Der ganze Ebräerbrief ist der Auslegung, Vereinfachung und Erweiterung des alten theokratischen Systems und der neuen Lehre Jesu sowie dem Vergleich zwischen denselben gewidmet. Der Verfasser stellt diese Lehre dem Gesetz gegenüber und deutet auf die Beweise hin, die Jesus selbst von der Wahrheit seiner Lehre erbrachte. Er zeigt dem jüdischen Volk ferner den Weg aus der Theokratie heraus in die Demokratie; aus dem „alten Wesen des Buchstabens” in das neue „Wesen des Geistes”. Er nennt das Alte „Schatten” der „zukünftigen Güter”, Sinnbilder „auf die gegenwärtige Zeit”, Dinge, die hernach offenbart werden. Wenn Vollkommenheit durch das levitische Gesetz erreicht war, wozu dann eine andre nach der Ordnung Melchisedeks? An andrer Stelle lesen wir: „Ehedenn aber der Glaube kam [genaues, wissenschaftliches Verständnis], wurden wir ... verschlossen auf den Glauben, der da sollte offenbart werden.” Christus wird als „eines bessern Testaments Mittler” verkündet. Hiernach erfahren wir, daß „das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen” ist „auf Christum”; und dann heißt es weiter: „Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu worden.” Formenwesen gilt nichts, sondern „eine neue Kreatur.”

Denen, die den Schritt aus dem Alten ins Neue getan hatten, erteilte Paulus den ausdrücklichen Rat: „Des Zankes und Streites über dem Gesetz entschlage dich; denn sie sind unnütz und eitel”, ermahnte sie jedoch dringend zu suchen „was droben ist”, mit der Begründung, die Lehren Jesu kämen nicht, um der alten Ordnung den Krieg zu erklären, sondern, um der neuen den Weg zu bahnen. „Darum wollen wir”, so schreibt er, „vom Anfang christliches Lebens jetzt lassen und zur Vollkommenheit fahren; nicht abermal Grund legen von Buße der toten Werke”. „Ziehet den neuen [Menschen] an, der da erneuert wird zu der Erkenntnis nach dem Ebenbilde des, der ihn geschaffen hat”. Die Gerechtigkeit, die Jesus lehrte, kommt nicht gebunden, sondern als ein freies Geschenk für jedermann. Diejenigen, „die da beweisen, des Gesetzes Werk sei beschrieben in ihrem Herzen”, sind sich selber ein Gesetz. Den Schwachen und Wankelmütigen, die bei der neuen Lehre kaum auszuharren vermochten und in das Alte zurückfielen, schreibt Paulus: „Wie wendet ihr euch denn um wieder zu den schwachen und dürftigen Satzungen, welchen ihr von neuem an dienen wollt? ... Ich fürchte euer, daß ich nicht vielleicht umsonst habe an euch gearbeitet.”

Sämtliche Verfasser des Neuen Testaments tadeln die Unaufrichtigkeit derer, die die Lehren Jesu anzunehmen vorgaben, dieselben aber nicht praktisch ausübten. Diese Leute waren in einem schlimmeren Zustand, als wenn sie niemals die Wahrheit von der Erlösung in der vom Evangelium verkündeten Art gehört hätten. Sie waren hoffnungsloser der Sünde verfallen als diejenigen, die sich immer noch der alten Ordnung fügten und nichts von dem unter der neuen, für sie bestimmten Segen wußten. „Denn es wäre ihnen besser”, schreibt Petrus, „das sie den Weg der Gerechtigkeit nicht erkannt hätten, denn daß sie ihn erkennen und sich kehren von dem heiligen Gebot, das ihnen gegeben ist.” „Mit ihnen ist das Letzte ärger worden denn das Erste.” Dies ist eine beachtenswerte Bemerkung, denn von allen Jüngern Jesu war Petrus am meisten in den alten theokratischen Anschauungen befangen, und er scheint sich nur mit größter Schwierigkeit von der denselben zugrundeliegenden Lehre befreit zu haben, daß Zorn auch zu den Eigenschaften Gottes gehöre, und daß die Menschen nur durch ein Ihm angenehmes Sühnopfer erlöst werden könnten. Noch bemerkenswerter ist jedoch die historische Tatsache, daß der Mann, der in Jesus das lebendige Beispiel von dessen Lehren gesehen hatte und der für sein richtiges Verständnis der Lehren des Meisters und deren Demonstrationen beim Heilen von Krankheit und Sünde belobt worden war, jemals als das Haupt eines ecclesiastischen, vermittelnden, Opferbräuche befürwortenden christlichen Systems angesehen worden sein sollte, eines Systems, das die Lehren des Christus als ein im Besitz der Kirche befindliches Geheimnis ausgab und das die Kirche als den gesetzlichen Verwahrungsort des Schatzes bezeichnete, den sie nach Belieben den Menschen zugänglich machen oder vorenthalten zu können behauptete.

Das Joch der Knechtschaft, vor dem Paulus warnte, wurde nicht abgewendet. Zu damaligen Zeiten wurden die Menschen von theokratischen Anschauungen hinsichtlich der göttlichen Regierung völlig beherrscht und geleitet. Die dem Menschen zukommende Freiheit, Würde und Kraft, unter Gottes Führung sein Leben richtig zu gestalten, war ein neuer Gedanke, dem nur wenige Verständnis entgegenbrachten. Der großen Mehrzahl erschien er, wie aus den Schriften des Neuen Testaments hervorgeht, nur als eine phantastische Neuerung. Das Christentum, wie Jesus es lehrte, wie er es zur Befriedigung seiner eignen menschlichen Bedürfnisse und der Bedürfnisse andrer anwandte und wie es in der ursprünglichen Kirche ausgeübt wurde, ging bald verloren. Die ersten Jünger waren von Dank und Freude erfüllt für die Befreiung aus dem künstlichen Wesen und dem Stumpfsinn der Religionslehre, zu der sie sich hatten bekennen müssen, sowie für die Freiheit, deren sie sich unter der neuen Lehre erfreuten, die ihnen die Kenntnis von Erlösung brachte und ihnen die Mittel zu deren praktischen Anwendung an die Hand gab. Die ersten Christen waren ihrer Gesinnung nach äußerst demokratisch und individuell. Das Christentum — das erkannte man — war mit theokratischen Anschauungen und Bräuchen unvereinbar. Ihre Kirchenorganisation wurde nicht zu ecclesiastischen, sondern zu völlig praktischen Zwecken gegründet — zur Gewährleistung gegenseitiger Hilfe und gemeinschaftlichen, brüderlichen Zusammenarbeitens bei der praktischen Anwendung der Lehre und bei der Lösung der Aufgaben des Lebens. Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts war diese demokratische Gesinnung fast gänzlich geschwunden, und mit ihr gingen die praktischen Erfolge verloren, die in der ursprünglichen Kirche so bemerkenswert waren. Die geistige Kraft und das geistige Verständnis schwanden, als menschliche Theorien und Methoden Einlaß fanden. Die von den apostolischen Verfassern im Neuen Testament dargelegten Lehren Jesu waren nicht mehr Gemeingut, man berief sich allmählich weniger auf sie, und die Menschen wurden zum Forschen in denselben nicht mehr ermutigt. Zuletzt waren Lehre und Beispiel Christi Jesu als Richtschnur für die christliche Religion so gut wie verloren.

Nahezu ein Jahrtausend lang blieb der einzige maßgebende Bericht, den wir über die Lehren und das Leben des Begründers der christlichen Religion besitzen, unbenutzt und ohne Einfluß auf das Leben der Bekenner seiner Religion. Gott schickte aber „den Geist seines Sohnes” nicht vergeblich in das menschliche Bewußtsein. Nach dieser langen Zeit kam Erquickung. Ein großer geistiger Hunger ergriff die Menschen, und zur Zeit ihrer Hungersnot wurde das köstliche Buch wieder ans Licht gefördert. Darin stand geschrieben, daß dem Menschen von Gott die Fähigkeit und das Recht verliehen sei, Gott selbst zu erkennen, und daß ihm das Recht zustehe, sein eignes Heil zu bewirken und des Segens teilhaftig zu werden, den die Ausführung dieser Aufgabe mit sich bringt. Herrlicher Fortschritt ist beim Werk der Wiederherstellung und Wiedereinführung der Lehren des Meisters zu verzeichnen gewesen; das Werk ist aber nicht vollendet. Fünf Jahrhunderte wurden dem Reformationswerk gewidmet; sie haben jedoch zur Vollendung der Aufgabe mit Rücksicht auf die gesamte christliche Welt nicht genügt. Dieses langverzögerte Werk findet seine Zusammenfassung und völlige Erfüllung in der Christian Science. Diese Lehre erfüllt durch ihre heilende Wirksamkeit die Aufgabe der ursprünglichen Kirche und erweist sich somit als die wissenschaftliche Darlegung der Lehre Jesu, vermöge deren jeder Mensch sein eignes Verständnis dieser Lehre demonstriert.

Die folgenden Worte unsres Lehrbuchs zeigen, wie treu sich dieses an die Lehre des Gründers des Christentums hält, wie dieselbe durchweg im Neuen Testament dargelegt ist, und welche Stellung es zum System des Alten Testaments sowie zu allen ähnlichen Fragen einnimmt: „Das Christentum, wie Jesus es lehrte, war kein Glaubensbekenntnis, keine Zusammenstellung von Zeremonien noch eine besondere Gabe von einem ritualistischen Jehova” (S. 135). „Mit Jesu Geschichte beginnt eine neue Zeitrechnung, die wir die christliche Ära nennen; er begründete jedoch keinen ritualistischen Gottesdienst. Er wußte, daß Menschen getauft sein, das Sakrament empfangen, die Geistlichkeit unterstützen, den Sabbat halten, Gebete sprechen, und dabei doch sinnlich und sündig sein können” (S. 20). „Wir beten geistig nur, wenn wir aufhören materiell zu beten” (S. 140).

Die Menschen haben durch die Offenbarung, die Mrs. Eddy geworden, an der Religion eine neue Stütze gewonnen. Vermöge des wissenschaftlichen Verständnisses, welches die Christian Scientisten durch das Wirken Mrs. Eddys erlangt haben, werden sie sozusagen durch die Jahrhunderte zurückversetzt, und es ist ihnen, als lebten sie in Gegenwart des Meisters und seiner Jünger in den Tagen des ursprünglichen Christentums, ehe die christliche Lehre und deren mächtige Werke durch menschliche Ansichten und selbstsüchtige Ziele getrübt und verkehrt wurden. Sie teilen die Freude der Urchristen.

Die Christian Science erklärt das Christentum, wie es seit dem ersten Jahrhundert unsrer Zeitrechnung nicht erklärt worden ist. Nichts tut der heutigen Welt mehr not, als ein besseres Verständnis vom Wesen des Christentums, von den Grundwahrheiten und der Einzigartigkeit des Systems, das es einführt, von den Verpflichtungen, die es dem Einzelnen auferlegt, von der Wirkung auf die Gesellschaft, wenn sich der Einzelne diesen Verpflichtungen entzieht. Bei der sorgfältigen Ausübung und Befolgung der Lehren Jesu kann jeder Augenblick dem Bilden und Aufbauen des menschlichen Charakters nutzbar gemacht werden. Wer da denkt, er könne diese Aufgabe einem andern übertragen und dabei gute Resultate erzielen, der irrt sich.

Als Christian Scientisten müssen wir dafür sorgen, daß dieser wissenschaftlichen Methode des Charakter-Bildens mehr Aufmerksamkeit gewidmet werde. Die Schwierigkeiten im Gemeinwesen und Staat, denen man durch Gesetzgebung abzuhelfen sucht, sind das Ergebnis von Sünde; sie beweisen, daß die Einzelnen ihr Heil eben nicht in der von Jesu gelehrten Weise zu bewirken bestrebt sind, obwohl sie sich zu der von ihm eingeführten Ordnung bekennen. Eines Menschen praktische Erkenntnis von Gott ist ein sicherer Felsen, auf dem er seinen Charakter aufbauen kann. Anstatt zur Beseitigung der Schwierigkeiten im nationalen Leben alles Vertrauen auf die Wirksamkeit von Gesetzesbeschlüssen zu setzen, sollten unsre Erzieher, Gesetzgeber, Philanthropen und Führer der öffentlichen Meinung der Charakterbildung ihre Aufmerksamkeit schenken und dieselbe in jeder Weise zu fördern suchen. Unsre Reform-Maßnahmen sind meist nur menschliche Notbehelfe zur Überwindung des moralischen Übels in der menschlichen Natur. Beständiger menschlicher Fortschritt geht am sichersten auf der Grundlage der individuellen Demonstration vor sich, und „einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christ.” Dieser Fortschritt weist auf jenen sozialen Zustand hin, in dem alle durch bloße menschliche Unterschiede bedingte Rücksichten — denen der Familie, des Stammes, des Vermögens und der Bildung — in dem einen großen Bestreben verschwinden, aller Menschen geistiges Bürgerrecht in dem Gemeinwesen Gottes zu erkennen.

Copyright, 1912, by The Christian Science Publishing Society
Verlagsrecht, 1912, von The Christian Science Publishing Society

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