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Die geschlossene Hand

Aus der Juni 1912-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


In einem vor einiger Zeit im „Sentinel" erschienenen Artikel kam folgender Gedanke zum Ausdruck: „Die geschlossene Hand kann nicht empfangen". Diese einfachen Worte, fast schroff in ihre Kürze, blieben zum mindesten einer Leserin im Gedächtnis, und sie wiederholte dieselben gar oft, während sie ihren täglichen Arbeiten nachging. „Die geschlossene Hand kann nicht empfangen”. Und weshalb nicht? Sie brauchte nur ihre eigne Hand fest geschlossen von sich zu halten, um diese Worte zu verstehen. Es hätte ihr jemand einen mit Gold gefüllten Beutel anbieten können, doch solange ihre Finger krampfhaft geschlossen blieben, hätte sie ihn nicht fassen können. Sie hatte nur nötig ihre Hand zu öffnen, wie man es tut, wenn man einem andern etwas anbietet, und dieser einfache Wechsel würde sie sofort fähig gemacht haben, das Dargebrachte entgegenzunehmen.

Als sie über diese Dinge nachdachte, kam ihr ein Bild in den Sinn, das in einem ihr wohlbekannten Lesezimmer hing und liebe Erinnerungen in ihr wachrief. Es zeigt eine Menschenmenge, die, auf einem Rasenplatz stehend, einer Frau lauscht, welche auf einen niedrigen Balkon hinausgetreten ist, um zu der Versammlung zu sprechen. Diese Frau ist Mrs. Eddy. Sie schaut auf die Tausende von Gesichtern herab, die ihr erwartend zugewandt sind. Ihr eignes Antlitz ist im Schatten, und ihre zarte Gestalt habt sich gleich einer Silhouette in scharfen Linien gegen den Himmel ab. Was für eine Welt von Beredsamkeit liegt nicht in diesen offenen, ausgestreckten Händen. Sie haben gegeben, gegeben, fortwährend gegeben. Andrerseits hat seit den Tagen Jesu von Nazareth niemand in solcher Fülle empfangen wie diese Frau. Stimmt es nicht überein mit einem unwandelbaren Gesetze, daß sie, die so viel gegeben hatte, in gleicher Weise empfing? Jesus selbst sagte: „Denn mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden”.

Erscheint nicht die Vorratskammer mitunter sehr leer, o armes Herz? Ertappen wir uns nicht manchmal auf dem Gedanken, daß uns die Christian Science nicht das bringt, was sie uns bringen sollte, daß wir nicht das erhalten, was uns zusteht? Wundern wir uns nicht ost, warum wir nicht mehr bekommen? Ehe wir uns solchen Gedanken hingeben, sollten wir versuchen, einen ganz andern Standpunkt einzunehmen. Anstatt zu fragen: „Was bietet mir die Christian Science?” wollen wir uns einmal fragen: „Was biete ich der Christian Science?” Anstatt zu sagen: „Ich möchte wissen, weshalb ich nicht mehr erhalte”, sollte die Frage lauten: „Mache ich auch den besten Gebrauch von dem, was ich schon besitze?”

Warum machen wir uns denn überhaupt darüber Sorge, was und wieviel wir empfangen? Das ist Gottes Sache, und seine Arbeit ist schon getan. Göttliche Liebe sagt stets, wie der Vater in dem Gleichnis: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles was mein ist, das ist dein”. Da das Prinzip und seine Idee in der Science untrennbar sind, so besitzt der Mensch schon alles, denn der der Mensch ist die Wiederspiegelung Gottes. Der Ring und das beste Kleid haben allezeit dem Sohn gehört, doch kann dieser nur dann von denselben Gebrauch machen und sich derselben erfreuen, wenn er sich an den Vater wendet, an das göttliche Prinzip seines Seins, von dem alles Gute kommt. Wir sollten uns die Frage vorlegen: Wenn wir heute alles das empfangen würden, was der Vater in so großer Liebe für uns bereitet hat, könnten wir ehrlichen Herzens sagen, daß wir von dem, was wir schon bewußterweise besitzen, den besten Gebrauch machen? Wenn wir diese Frage mit Ja beantworten könnten, wenn wir andern aus dem Überfluß eines erkenntlichen Herzens geben, ohne an Belohnung oder Gewinn zu denken, werden die klaren und starken Ströme eines noch höheren Verständnisses unser Leben durchdringen, und zwar im Einklang mit dem göttlichen Gesetz der Wechselwirkung.

Als Saul von Tarsus das Licht der Wahrheit zuerst erblickte, hielt er sich nicht auf, um zu fragen, was ihm dies alles einbringen würde. Er dachte nicht an den Lohn für seine Arbeit im Dienste des Meisters. Nein, er fiel auf seine Knie und rief: „Herr, was willst du, daß ich tun soll?” Und so wird jeder Christian Scientist, der dieses Gebet täglich in seinem Herzen trägt, an der Neige des Tages finden, daß er über sein Erwarten Gelegenheiten zum Geben und Segnen gehabt hat. Ein solches Gebet bringt dem Bewußtsein das göttliche Wirken nahe und wird stets erhört. Es ist das Gebet, welches geben möchte, und nicht ein Gebet, welches murrt, weil es nicht erfüllt wird. Es ist das Gebet, welches die Erfüllung des Willens des Vaters erfleht, und nicht die Erfüllung des eignen Willens. Es ist das Gebet des Gerechten, das viel „vermag”.

Jahrg. 10. Nr. 3—(2)

Selbstbetrachtung ist nicht immer eine angenehme Beschäftingung, noch ist sie besonders dazu geeignet, unsre Selbstachtung zu erhöhen, da wir, wenn wir tief in das menschliche Bewußtsein eindringen, zuweilen Gedanken an die Oberfläche bringen, die bei Tageslicht betrachtet nicht gerade sehr schön aussehen. Dessenungeachtet hat solch ein Verfahren etwas Reinigendes, und keiner von uns darf es vernachlässigen, da wir bei neun aus zehn Fällen von Mißerfolgen nur in unser Innerstes zu blicken brauchen, um den Fehler festzustellen. Fühlen wir z. B., daß wir von unsrer Umgebung nur ein spärliches Maß von Liebe empfangen? Laßt uns in uns gehen und ausfindig machen, wie viel Liebe wir mitteilen. „Aber”, klagen wir, „gewisse Leute scheinen uns nicht leiden zu können”. Können wir Sie denn leiden? „Denn so ihr liebet, die euch lieben”, spricht der Meister, „was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?”

Wir mögen vielleicht das Gefühl haben, daß man uns ungerecht behandelt hat. Wie war aber unser Benehmen andern gegenüber? Hat es sich stets durch jene zartfühlende Wohltätigkeit gekennzeichnet, die so „umfassend” war, „daß sie das Übel der ganzen Welt decken, milde genug, daß sie das Bittere in ihr unschädlich machen konnte” („Miscellaneous Writings”, S. 224)? Es ist wohl möglich, daß unsre besten Bestrebungen oft nicht anerkannt werden. Doch wie steht es mit dem aufrichtigen Bestreben andrer Leute? Haben wir ihnen immer in wohlwollender Weise das „Bravo” zugerufen, welches wir vermißt haben? Viele von uns fühlen, daß wir oft mißverstanden werden. Verstehen aber wir unsre Mitmenschen immer? Diejenigen, die anders sind als wir, mögen trotz alledem ebenso aufrichtig und ehrlich in ihrer Überzeugung sein, wie wir selbst. Es gehört eine selten große Natur dazu, dies einzugestehen. Gesetzt den Fall, unsre Fehler werden kritisiert. Anstatt uns darüber zu ereifern, sollten wir in die Vergangenheit schauen und zusehen, ob wir uns nicht schon oft das Recht herausgenommen haben, andre zu richten. Sind unsre Fehler besprochen und vergrößert worden? Wie steht's mit den Fehlern andrer Leute? Haben wir ihnen gegenüber immer das liebevolle Schweigen beobachtet, welches wir hinsichtlich unsrer Fehler erwarten?

Wahrlich: „Mit welchem Maße ihr messet”. Gedenket dieser Worte, liebe Mitarbeiter in Christus. Daher fange ein jeder heute, ja zu dieser Stunde an, in irgendeiner Weise dem Nächsten zu Helfen. Wem das Gefühl aufsteigt, daß er nicht imstande sei Gutes zu tun, der widerlege diese Lüge sofort und weise sie dahin, wo sie hingehört. Keiner ist so arm, daß er nicht etwas tun könnte, und sei es auch nur, daß er im Garten einem Käfer, der auf dem Rücken liegt und vergeblich sich umzudrehen versucht, mit dem Fuße aufhilft. Nicht immer ist es Geld, was diese traurige Welt braucht. Wenn in Bezug auf die Bedürfnisse der Menschen Statistiken aufgestellt werden könnten, so würden dieselben wohl zeigen, daß jährlich mehr Leute an Mangel an Liebe sterben, als an Mangel an Nahrung. Vielleicht sind Leute ganz in unsrer Nähe, für die ein Wort der Ermutigung mehr wert hat, als alles Geld der Welt. Tatsächlich treten manchmal Umstände ein, unter welchen es mehr christlicher Gesinnung bederf, einem alleinstehenden und mißverstandenen Freund, der zur Zeit in den Augen der Welt entehrt dasteht, die Hand zu reichen, als eine Kirche zu bauen, deren Turmspitze bis in den Himmel ragt.

Als die „fünftausend Mann, ohne Weiber und Kinder” hungrig waren und kein Brot hatten, speiste sie Jesus in der Wüste; aber als Maria ihm zu Füßen saß, um mehr von Christus, der Wahrheit, zu lernen, sagte er, sie hätte das gute Teil erwählet. Stets war er bereit zu geben, und zwar immer der menschlichen Notdurft entsprechend. Er sagte nicht zu der hungrigen Menge: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein”, noch gab er Maria von den Broten und Fischen. Können wir ernstlich genug um eine derartige feine Unterschei-dungsgabe bitten, um eine solche intelligente und klug sich äußernde Liebe, die sich mit zartem Mitgefühl über die Menschheit erstreckt, immer bereit zu segnen, zu trösten und zu heilen?

Einstmals fand Elias während einer Hungersnot eine arme Witwe beim Sammeln von Reisern. Als er sie bat, ihm einen Trunk Wassers und einen Bissen Brotes zu holen, erklärte sie, sie hätte nur eine Handvoll Mehl und ein wenig Öl im Kruge, „und siehe, ich habe ein Holz oder zwei aufgelesen, und gehe hinein, und will mir und meinem Sohne zurichten, daß wir essen und sterben”. Dieselbe alte, lügenhafte Entschuldigung: „Zu arm, um zu geben”! Doch was sagte der Mann Gottes? Unterwarf er sich diesem Mesmerismus? Nahm er den Gesichtspunkt dieses Weibes an und machte er sich nun schleunifst auf die Suche nach jemand, dessen Verhältnisse nicht so augenscheinlich beschränkt waren? Ganz und gar nicht. Im Gegenteil, er gewahrte den Gemütszustand der Person, sah die „geschlossene Hand”, die sich an Furcht, Zweifel und Eigenliebe anklammerte, aus Mangel an Glauben an Gottes unendliche Güte. Er sah, daß, soweit ihre Person in Betracht kam, die Hungersnot nirgends größer war, als in ihrem eignen Denken, und er verhalf ihr in der für den Augenblick einzig zweckentsprechenden Weise zur Heilung des Zustandes. „Fürchte dich nicht”, sagte er, „gehe hin und mach's, wie du gesagt hast; doch mache mir am ersten ein kleines Gebacknes davon”. Öffne die geschlossene Hand. Diese steifen, krampfhaft zusammengezogenen Finger sind zu lange geschlossen gewesen. Laß alles fahren, was zur Einschränkung beiträgt. Höre auf an Gott zu zweifeln, und fange an deinem Bruder mit dem zu helfen, was du bereits bewußterweise in Besitz hast. Das Weib tat, wie ihr gesagt war, und die zum Geben geöffnete Hand empfing die Segnungen; denn es wird uns erzählt, daß „er aß, und sie auch und ihr Haus eine Zeitlang. Das Mehl im Kad ward nicht verzehret, und dem Ölkrug mangelte nichts."

Elias ist heutzutage nicht bei uns, wohl aber Gott. Dasselbe Prinzip, das damals wirkte, ist auch heute noch wirksam, denn Gott ist derselbe „gestern und heute, und. .. auch in Ewigkeit”. Darum laßt uns dies glauben und nach unserm Glauben handeln. Laßt uns mit Freuden geben, was wir haben. Wenn uns irgendein schöner Gedanke offenbar geworden ist, der gleich einem Stern auf unsern aufwärtsführenden Weg herniederstrahlt, laßt uns bedenken, daß wir uns denselben nur dadurch wirklich zu eigen machen, wenn wir den Segen, den er uns gebracht hat, andern mitteilen. Was wir gestern empfingen und heute geben, befähigt uns sicher, morgen in größerem Maße zu empfangen. Nur der erhält nichts, der still steht und das, was er hat, ängstlich festhält, aus Furcht es zu verlieren.

Darum laßt uns die geschlossene Hand öffnen. Es sollte einem jeden von uns Freude bereiten, „die Straße entlang für den müden Wanderer zu säen, und der Liebe die Belohnung der Liebe zuzutrauen” („No and Yes”, S. 3). Der Lohn ist uns sicher und kommt oft schneller, als wir ihn erwarten. Wir wollen willig das Was, Wenn und Wo Gott überlassen und ruhig vorwärtsstreben, in Selbstvergessenheit andre segnen und der Zukunft die Offenbarung der Tatsache überlassen, die uns jetzt schon täglich, ja stündlich klarer wird: daß wir durch Geben nicht verlieren können.

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