Das Leben Jesu von Nazareth ist ein fortlaufendes Beispiel wahrer Demut. Als gehorsames Kind, als kluger und gelehriger Knabe, der an Gnade bei Gott und den Menschen zunahm, durch das Überwinden der Versuchung des Satans, seine unzweifelhaften Geistesgaben und persönlichen Eigenschaften zur Selbstverherrlichung in den Reichen dieser Welt anzuwenden, erweiterte sich sein Verständnis der Allheit Gottes und des Menschen Einssein mit dem Vater immer mehr. Vor solchem Verständnis weicht Stolz immer beschämt zurück. Wie sehnte sich Jesus, alle Menschen zu der Quelle des Seelenfriedens zu ziehen, dessen er sich erfreute, wenn er z. B. sagte: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken”! Ohne Demut gibt es keine wahre Erquickung oder Ruhe. Nur den Sanftmütigen und von Herzen Demütigen kann die christliche Ruhe zuteil werden.
Die Offenbarung der Christlichen Wissenschaft kam zu Mrs. Eddy, weil sie von einer Demut beseelt war, die alle Macht Gott zuschreibt und weiß, daß der Mensch nur das hat, was er von Gott widerspiegelt. Anscheinend schwebte ihr das Bild vom Phönix vor, jenem sagenhaften Vogel, der, durch Feuer vernichtet, sich immer wieder aus seiner Asche erhebt, als sie schrieb: „Demut ist der Schrittstein zu einer höheren Erkenntnis der Gottheit. Der emporstrebende Sinn sammelt neue Gestalten und fremdes Feuer aus der Asche des sich auflösenden Selbst und streift die Welt ab” (Miscellaneous Writings, S. 1). Und auf Seite 356 schreibt sie: „Demut ist Linse und Prisma des Verständnisses des Gemüts-Heilens. Ohne Demut ist es unmöglich, unser Lehrbuch zu verstehen. Sie ist für das persönliche Wachstum unentbehrlich, und sie weist den vorgezeichneten Weg seines göttlichen Prinzips und seiner göttlichen Betätigungsregel”. Von denen, die diese Tugend schon teilweise erlangt haben, ehe sie vom Buchstaben der Christlichen Wissenschaft etwas wußten, sagt die Bibel: „Die Demütigen sollen es hören und sich freuen” (engl. Bibel). Sie sind für die höhere Gotteserkenntnis bereit, nehmen sie freudig an und empfangen den Segen der Heilung. Sie verteidigen ihre früheren Anschauungen nicht, sondern wenden sich vielmehr davon ab und dem ihrem Auge sich erschließenden herrlichen geistigen Ausblick zu.
Eine der letzten Handlungen Jesu, ehe er verraten wurde, war, seinen Jüngern ein Beispiel von der Notwendigkeit der Demut zu geben und sie zu ermahnen, ihm mit der Tat zu folgen. Nur der geliebte Jünger Johannes berichtet die liebliche Geschichte, wie Jesus seinen Jüngern die Füße wusch, obgleich der Meister wußte, daß gerade diese Füße ihn in der Stunde seiner Anfechtung verlassen werden. Wir müssen Jesu Beispiel in jeder Einzelheit folgen. Selbst wenn wir auch nur selten oder überhaupt nie Gelegenheit haben werden, sein Gebot in dieser Hinsicht buchstäblich zu befolgen, so ist doch sein Geist so bindend, wie er immer war. Kein Dienst ist für den Christlichen Wissenschafter zu niedrig; unser Dienen muß sich auf alle erstrecken. Demütig müssen wir den Schmutz der Erde und den Staub der Weltlichkeit von dem Verständnis derer, die wir lieben, zu beseitigen trachten. Und da unsere Liebe alle Menschen umschließt, müssen wir bereit sein, allen gleich unwandelbar liebevoll zu dienen. Wie Jesus seine Kleider ablegte, und sich mit einem Schurz umgürtete, so müssen wir unsere Neigungen, Bequemlichkeiten, Herkömmlichkeiten, Gewohnheiten ablegen und uns in Demut kleiden, ehe wir Gott dadurch dienen können, daß wir den Menschen helfen und beistehen. Als Jesus dem Petrus die Füße waschen wollte, schreckte dieser zuerst vor der Ehre zurück; dann bat er, daß ihm auch die Hände und das Haupt gewaschen würden. Sanftmütig erklärte ihm jedoch Jesus, daß dies unnötig sei, womit er wahrscheinlich sagen wollte, daß alles, was man berühre oder denke, auch rein sei, wenn das Verständnis oder die Grundlage des Denkens rein ist.
Beim Ausüben der Christlichen Wissenschaft ist es notwendig, daß sowohl der Ausüber als auch der Hilfesucher demütig sei. Der Ausüber sollte des Menschen Einssein mit Gott klar erkennen. Er muß sehen, daß er so wenig etwas aus sich selber tun kann, wie eine Lampe leuchten kann, wenn sie nicht angezündet ist. Der Ausüber ist sozusagen der Becher, woraus der Durstige trinkt; aber nur das Wasser des Lebens allein heilt und erquickt. Immerhin muß der Becher, mit dem der Dienst geleistet wird, rein und heilig und stets gebrauchsfertig gehalten werden. Beim Ausüber darf kein Gefühl der Überlegenheit aufkommen; das wahre Selbst des Hilfesuchers ist nicht krank oder unwissend, sondern eine vollkommene göttliche Idee, die erkannt werden muß.
Gleichzeitig kann der Ausüber, wenn er der Führung des göttlichen Gemüts gehorcht, gezwungen sein, ganz anders zu handeln und zu sprechen, als es der Hilfesucher erwartet. Wenn jemand, der um Hilfe bittet, genau wüßte, was sein Feind ist, hätte er ihn dann wohl nicht bereits überwunden? Sehr oft heißt dieser Feind Stolz in irgend einer Form, der sich seelisch als Mangel an Demut und körperlich als Mangel an Gesundheit, an Mitteln oder an Beschäftigung zeigt. Dies ist in der Geschichte von dem Syrer Naeman sehr anschaulich dargestellt. Bekanntlich war Naeman in den Augen seines Herrn ein großer Mann; aber er war aussätzig. Zweifellos fehlte es ihm an Demut. Als er zu dem Mann Gottes kam, erkannte der Prophet dies sofort und behandelte ihn dementsprechend, um auf diese Art den Gesinnungszustand, der körperlich als demütigende Krankheit in Erscheinung trat, zu zerstören. Daher ging er dem großen Kriegsmann und seinem stattlichen Gefolge nicht entgegen, auch berührte er nicht mitleidig die wunde Stelle, noch nahm er an dem Fall scheinbar mehr Anteil, als er es bei einem unbekannten syrischen Hirten getan hätte. Ein heftiger Aufruhr erhob sich sofort in Naemans Bewußtsein, und er wandte sich um und zog zornig weg.
Hätte Naemann dieser ersten Regung des sterblichen Gemüts nachgegeben, so wäre seine Heilung verzögert worden; aber der Bericht läßt darauf schließen, daß Liebe und Gehorsam in seinem Bewußtsein doch schon etwas entwickelt waren, sonst hätte er nicht auf die vernünftigen Worte seiner treuen Diener gehört. Als er die Kleinigkeit tat, die ihn der Prophet geheißen hatte, als er sich bereitwillig demütigte und im Jordan badete, als er dies aus freien Stücken und ausgiebig, sogar siebenmal, getan hatte, war er von Stolz und Eigenliebe geheilt, und seine Heilung war so vollständig wie seine Demut und sein Gehorsam, denen seine Dankbarkeit gleich kam. Es steht geschrieben, daß er zu dem Mann Gottes zurückkehrte, der nun von Angesicht zu Angesicht mit ihm reden konnte. So freigebig und dankbar Naeman auch war, er durfte nichts Weltliches für seine Heilung geben. Ein weiterer Beweis seiner Demut wurde von ihm gefordert: er mußte annehmen lernen, mußte diese unschätzbare Wohltat bescheiden aus der Hand des Propheten nehmen und erkennen, daß sein Reichtum dem Mann Gottes, der soeben so unzweifelhaft bewiesen hatte, daß er die Wirklichkeit wahrer Wesenheit besaß, nichts bedeutete.
Auch heute kann jemand, der sich an die Christliche Wissenschaft um Hilfe wendet, versucht werden, zornig wegzugehen, wenn er findet, daß er geheißen wird, das Buch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” von Mary Baker Eddy zu lesen, sich in die Bibel zu vertiefen und sich vom Selbst und vom Körper abzuwenden. Ist er jedoch für die Heilung bereit, so wird er dieser Versuchung des sterblichen Gemüts nicht erliegen; ist er aber nicht bereit, so kann er unter dem Irrtum weiter leiden, bis er willens ist, die Lehre zu lernen, die die göttliche Liebe immer zu lehren bereit ist.
Wie man selber über Demut denkt, kann man gut dadurch prüfen, daß man darauf achtet, ob Tadel einen erbittert, oder ob eine bewußt oder unbewußt erteilte Rüge einen veranlaßt, tiefer in die eigenen Beweggründe und Handlungen hineinzusehen, sie zu zergliedern, um zu sehen, ob man nicht etwas weiser, liebevoller, wachsamer sein könnte. Will Erbitterung aufkommen, so muß man wissen, daß nicht der wirkliche Mensch sondern nur törichter menschlicher Stolz sich aufbäumt. Denn Stolz lehnt sich sogar gegen die liebevollste und sanftmütigste Zurechtweisung auf, während Demut sich selbst die leiseste Andeutung von Tadel als Mahnung dienen läßt, daß bessere Arbeit hätte getan werden können, und dankbar ist, wenn versteckter Irrtum aufgedeckt wird.
Demut leidet nicht; denn sie hat das wahre Selbstgefühl. Sie weiß, daß der Mensch nichts aus sich selber tun kann. Daher kann sie den Irrtum als unpersönlich sehen und bringt ihn so nicht mit des Menschen wirklichem Selbst in Verbindung, sondern sieht den Menschen als Gottes Widerspiegelung, immer schön und vollkommen. Ohne Demut kann es kein wahres Glücklichsein geben; denn Demut bedeutet Selbstvergessenheit, und Selbstvergessenheit bedeutet ein Herz, das frei von sich selber ist. Ohne Demut werden wir, wie unsere Führerin uns warnt, den Weg der Wahrheit und der Liebe nicht finden. Nur Demut kann uns überhaupt befähigen, die großen Höhen der Heiligkeit zu erklimmen, wo die Offenbarung der Wahrheit erlangt wird.
Sowohl in der Kirchenarbeit als auch in der ausschließlichen Heilarbeit der Christlichen Wissenschaft brauchen wir die Anmut der Demut. Demut im Herzen der Kirchenmitglieder bringt Heilung in die Gottesdienste, Eintracht in die Sitzungen, Freudigkeit in die Arbeit der Vorstände und Ausschüsse. Demut macht jeden willig, sich redlich an der Arbeit zu beteiligen, ohne je Ämter oder Ansehen zu begehren, aber bereitwillig in dem Amte zu dienen, wozu er von anderen ernannt ist. Nach Ernennung läßt sie keine Befürchtung wegen der damit verbundenen Verantwortung aufkommen, wenn das Amt in der Erkenntnis angenommen wird, daß Gottes Gnade für die Ausführung der Pflicht genügt, daß Gottes Stärke im Bewußtsein vollkommen gemacht wird, wenn man sich auf sie anstatt auf die Schwachheit des sterblichen Gemüts, des sterblichen Verstandes oder der sterblichen Persönlichkeit verläßt.
Eine Kirche als Ganzes bedarf insbesondere dann der Demut, wenn sie zu gedeihen scheint, damit die Mitglieder zu solcher Zeit nicht Gott vergessen und nicht dem falschen Glauben anheimfallen, sie könnten etwas aus sich selber tun. „Wo der Herr nicht das Haus bauet, so arbeiten umsonst, die daran bauen”, erklärte der Psalmist. Die wirkliche Kirche ist „der Bau der Wahrheit und Liebe” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 583) im Herzen der Mitglieder; und wenn keine Demut vorhanden ist, ist das körperlich sichtbare Gebäude nur eine leere Schale. Es hätte keinen Sinn, eine Kirche zu bauen, die leer stehen würde, wenn auch noch so viele Menschen hineinzugehen schienen. Demut und Liebe gehen Hand in Hand, und Gedeihen folgen ihnen nach. Paulus schreibt: „Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen; aber Gott hat das Gedeihen gegeben”. Jeder von uns muß sich an der Arbeit beteiligen, und unser himmlischer Vater wird zweifellos das Gedeihen geben. Er wird uns nie versäumen. „Wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht”.