Ein denkwürdiger Tag begann an jenem Morgen, als Jesus am Brunnen Jakobs ausruhte. Der Brunnen ist heute noch dort, am Fuße des Berges an der Straße halbwegs zwischen Jerusalem und Nazareth. Viele, die diese Zeilen lesen, haben in seine Tiefe hinuntergeblickt. Ja, er ist tief, 17m bis zum Wasserspiegel. Jesus hatte in der heiligen Stadt und in ihrer Umgebung gelehrt. Er war nun auf dem Wege nordwärts nach seiner Heimat in Galiläa, für den Augenblick müde, weil die Reise beschwerlich und seine Aufnahme im Süden nicht allzuherzlich gewesen war.
Während er an dem Brunnen ausruhte, kam ein Weib aus Samaria, Wasser zu schöpfen. Bald rief ihre Unterhaltung das zwischen Juden und Samaritern übliche Argument hervor, wen oder was die Menschen anbeten sollten, und wie und wo. „Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet”, begann sie, „und ihr sagt, zu Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten soll”. „Weib”, entgegnete Jesus, „glaube mir, es kommt die Zeit, daß ihr weder auf diesem Berge noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten. .. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten”.
Was für eine Verkündigung! Gott überall, und überall anzubeten! Keine Grenzen für Seine Gegenwart, kein Mangel an Gelegenheit, in Gemeinschaft mit Ihm zu sein. Er ist im Heim, im Geschäft, auf dem Felde, im Bergwerk, in der Luft, auf dem Meer, auf dem Schlachtfeld. Wo auch immer einer von Seinem Volk ist, dort ist Er, und dort steht Er zur Verfügung. Die altertümliche Vorstellung der Samariterin, daß Gott patriarchalisch oder menschenähnlich oder körperlich sei, und daß Er auf eine besondere Örtlichkeit beschränkt sei, wird von dem berühmten Lehrer verworfen. Die kirchliche Theorie, daß man sich nur im Tempel und dort nur bittend und bußfertig Ihm nahen könne, wird verworfen. Gemeinschaft mit der Gottheit kann also jedermann überall, jederzeit und in jedem Maße haben. Man kann in den stillen Nachtstunden oder in den geschäftigen Tagesstunden ohne Unterlaß beten, wie die Bibel einschärft; denn geistiges Denken ist unaufhörliche Bewegung.
Wir haben allzugern geglaubt, daß Gott von uns getrennt sei, und daß Er abgeneigt sei, unsere Bedürfnisse zu befriedigen. In dieser Haltung haben wir Ihn angerufen, zu uns zu kommen, anstatt zu erkennen, daß Er immer bei uns ist. Wir haben Ihn gebeten zu geben, anstatt wahrzunehmen, daß Er schon alles Gute und Nötige verliehen hat. Wir haben Ihn angefleht, uns zu heilen und uns vom Verderben zu erretten, anstatt zu erkennen, daß Er mitten unter uns ist und uns allen ein reiches und befriedigendes Leben gibt, ein Leben frei von Krankheit und Verzweiflung.
Weder Zeit noch Ort bildet ein Hindernis für diese Einheit mit dem Geist, die einen zu Furchtlosigkeit und edlen Taten anspornt. Noch hält Unglück oder Not die Trostlosen davon ab, sich wesensgleich mit dem erbarmungsvollen Geist zu erklären und zu erfahren, daß ihre Schmerzen, Besorgnisse, Trostlosigkeiten und Unentschlossenheiten vergehen. Mary Baker Eddy hat das Vorgehen in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” klar vorgeschrieben, entsprechend der Verheißung des Apostels Paulus in seinem Briefe an die Römer: „So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist. ... Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder”.
Wer die Lehren des Neuen Testaments und der Christlichen Wissenschaft, daß Gott der Geist ist, annimmt, muß unbedingt zu dem Schluß kommen, daß der Mensch und das Weltall geistig sind. Sie können nicht materiell, das direkte Gegenteil ihres Schöpfers, sein. Wer sich auf Vernunft, Erfahrung und Verständnis verläßt, kommt zu demselben Schluß. Dies spricht für einen unbeschränkten Menschen in einer ungehinderten Welt—einen sicheren, freien, unerschrockenen, tatkräftigen Menschen. Der wirkliche Mensch ist eine Zusammensetzung aus geistigen Eigenschaften. Er ist geistvoll, nicht geistlos. Es ist immer „der Geist, der da lebendig macht”. Wenn daher die Nachrichtenerläuterer von den Helden von Corregidor, Malta oder Leningrad sprechen, staunen sie nicht über deren leibliche Tapferkeit, sondern über deren Geist. Sie rufen aus: „Das sind Männer!”
Das geistige Dasein ist nicht bloß eine für die Zukunft gehegte Hoffnung. Es ist ein Zustand, den man jetzt gewahr werden kann. Es ist nicht eine Frage der Erwartung, sondern eine Frage der Aneignung. Kein Preis, keine Sühne, kein Opfer wird gefordert. Mit ihm kommt die Kraft und die Fülle des echten Seins, woran Leiden, Begrenzung, Vereitelung keinen Teil haben. Das geistige Dasein umfaßt einen vollkommenen Gott und einen vollkommenen Menschen.
Materie und Sterblichkeit mit ihrem Heer von Krankheit und Übel, das sie im Gefolge haben, sind in der Christlichen Wissenschaft veraltet. Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin dieser Wissenschaft, verkündigt (Miscellaneous Writings, S. 187): „Der große Metaphysiker wirkte über jedem Sinn der Materie und darüber hinaus in den richtigen Sinn der Möglichkeit des Geistes hinein. Er bestätigte Gesundheit und Harmonie, die Vollkommenheit des Gemüts und des Leibs als die Wirklichkeit des Menschen, während Mißklang, wie er in Krankheit und Tod kund wird, für ihn das Gegenteil des Menschen, daher die Unwirklichkeit war, gerade wie in der Wissenschaft ein Akkord augenscheinlich die Wirklichkeit der Musik und Mißklang die Unwirklichkeit ist”.
Der Materialist mag den Geist und geistige Dinge für unfaßbar und unwägbar halten, und seinem Sinn sind sie es. Doch in Wirklichkeit sammelt der Geist zu sich alle Substanz, Fortdauer, Stetigkeit. Der Geist bedeutet, ja besitzt innewohnend in ihm dauernde Macht, Lebenskraft, Lebhaftigkeit, freien Antrieb, Inbrunst, Anmut, Tapferkeit, Furchtlosigkeit—alle Eigenschaften des Lebens, der Seele, des Prinzips. Der Geist findet seinen höchsten und edelsten Ausdruck im Menschen. Hieraus ist ersichtlich, daß der Mensch eine Zusammensetzung der Eigenschaften des Geistes ist. Er ist nicht bloß in der Gegenwart des Geistes. Er ist diese Gegenwart—der Zeuge Gottes.
Wie sieht der geistige Mensch aus? Hat er Kontur oder Statur? Sie haben bewundert, wie der Anwalt eine wichtige Sache vor Gericht verteidigt. Sie haben den Retter ein Opfer der Brandung oder einem brennenden Gebäude entreißen sehen. Sie haben sich durch das innere Auge den Soldaten im Kampf auf Batan vorgestellt. Sie lobten den Nachbarn, der seine Arbeit gefunden hat und sich daran erfreut. Hatte er Komplexion oder Dimensionen oder Glieder? Sie beobachteten es nicht. Aber Sie waren sicher, daß keine Schönheit gewünscht wurde. Sind Menschen auf diesen erhabenen Höhen geistig? Sie sind mindestens an der Schwelle des Geistes. Für den geistigen Menschen gibt es keine Abgelegenheit. Um ihn sichtbar werden zu lassen, ist nur die Gelegenheit und geistige Empfänglichkeit nötig. Die Gelegenheit können Sie jeden Augenblick haben.
Was heißt „im Geist und in der Wahrheit” anbeten? Der betet am besten, der am besten lebt, d.h. einerseits Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Erbarmen übt und anderseits Wachsamkeit, Mut und eine dem Erfordernis der Stunde entsprechende Vaterlandsliebe betätigt. Der Geist ist nicht beschwert, schwach, zögernd, abwartend. Natürlich nicht. Noch ist der Idealmensch angesichts nationaler Gefahren wankelmütig, neutral, selbstsüchtig. Gewiß entdeckt ein guter Bürger schnell die Gefahr seines Landes und verteidigt es unverzüglich. Er wird jede Anstrengung machen, bis ein entscheidender Sieg gewonnen ist. Erst dann wird er auf Friedensvorschläge hören. Auch wird er keinen Augenblick die Aufrichtigkeit der Völker bezweifeln, die ihren Schlachtenplan zugunsten menschlicher Freiheit vereinigt haben. Er verwirft Leichtfertigkeit, achtet Unbequemlichkeit für nichts, schätzt die Bedeckung eines Truppenschiffs für wichtiger als die Sicherung seiner eigenen persönlichen Interessen. Indem er mit ganzem Herzen das allgemeine Problem lösen hilft, findet er seine eigenen Schwierigkeiten beseitigt. Indem er Stunde für Stunde inbrünstig hochschätzt, daß „Zuflucht unter den ewigen Armen ist”, fördert er Sicherheit und Ausdauer der Kämpfer an der Front und beflügelt ihren Heldenmut mit Sieg.
