Wer das Reisen in letzter Zeit etwas beschwerlich gefunden hat, denkt wohl kaum mit großer Begeisterung daran, so bald wieder zu verreisen. Aber die Reise, zu der wir hier eingeladen werden, führt schnell und mühelos zum Ziel; denn es ist eine rein mentale Reise. Der Leser braucht mit seinen Gedanken nur im sogenannten Mittelwesten der Vereinigten Staaten zu weilen und sich vorzustellen, sein Blick schweife über ein in der heißen Julisonne wogendes Feld reifen goldenen Weizens hin.
Unser großer Meister Christus Jesus gebrauchte oft einfache Geschichten zur Erläuterung tiefer Wahrheiten, und einmal gab er seinen Zuhörern das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen. Alle Bibelleser erinnern sich des bündigen, anschaulichen Wortbildes von dem mit Weizen angesäten Feld, in das der Feind Unkraut säte.
Manche mögen heute nicht wissen, von welchem Unkraut der Meister sprach, sondern einfach annehmen, daß es eben irgendein Unkraut war. Aber es war viel mehr. Weil es während des Wachsens dem Weizen so ähnlich sah, daß es nicht von ihm zu unterscheiden war, verbot der Hausvater seinen Knechten, es auszujäten, damit sie nicht auch den Weizen mit ausrauften. „Lasset beides miteinander wachsen bis zur Ernte”, sagte er.
Zur Erntezeit war der Unterschied unverkennbar; denn das Unkraut hatte keine Ähren. Es hatte trotz des reichen Bodens, des Sonnenscheins, der lauen Lüfte und des erfrischenden Regens keine Frucht erzeugt. Es hatte alles genommen und nichts dafür gegeben. Da stand es, kräftig und leer, nutzlos, überflüssig, wertlos, bloß raumversperrend, zu nichts geeignet als in Bündel gebunden und verbrannt zu werden. Mit Unkraut so gut wie mit Personen kann dieselbe unfehlbare Probe angestellt werden: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen”.
Aber das war nicht das Schlimmste. Es scheint, daß sich das Unkraut nicht damit begnügte, einfach nichts zu sein, nichts zu tun, nichts zu vollbringen, sondern in der falschen Richtung aggressiv tätig war, eine beständige Gefahr für das Wohlergehen der Knechte des Hausvaters war, die dazwischen arbeiteten.
Den Bibelenzyklopädien entnehmen wir, daß dieses Unkraut der Zeit Jesu einen gewissen betäubenden und Schwindel verursachenden tückischen Stoff enthielt. Das Unkraut war „als eines der ganz wenigen in der zahlreichen Gräserfamilie, die betäubende Eigenschaften hatten, bemerkenswert” (Populär and Critical Bible Encyclopedia).
Wie zur Zeit unseres Meisters erscheint manchmal auch heute, wenn gute Taten reifen und rechte Beweggründe und Wünsche in Worten und Taten Gestalt annehmen, „der Feind”, der „das getan hat”, wie der Hausvater erklärte. Das sterbliche Gemüt mag im Laufe der Jahrhunderte wohl seinen Namen, aber nicht seine Verfahren geändert haben. Wie das Unkraut, das den Weizen erstickt, so steigen falsche und unechte Behauptungen auf und versuchen das stete Wachstum der geistigen Idee, die sich im menschlichen Bewußtsein entfaltet, zu zerstören. Und wie listig diese Einflüsterungen arbeiten! Denn die Menschen schwindlig machen, ist dasselbe, was in neuerer Zeit „Mesmerismus” genannt wird, unter dessen Einfluß die Sterblichen nicht klar sehen, nicht recht denken oder weise handeln.
Wer je ein Weizenfeld zur Erntezeit gesehen hat, weiß genau, was mit dem „Flüstern” gemeint ist, das man darin hört, wenn es sich wie kleine Meereswellen im Winde kräuselt, wobei die schweren Ähren sachte aneinander reiben. Das Unkraut macht jedoch gewöhnlich das meiste Geräusch wie gewisse Eigenschaften des menschlichen Gemüts, die nicht übersehen sein wollen, obgleich sie tatsächlich nichts tun, was der Mühe wert ist. Da das Unkraut selber keine Festigkeit hat, können seine dünnen, dürren Stengel nur rauschen und rascheln und umhertanzen, während der Weizen, unberührt, hoch und kraftvoll und schön dazwischen steht und der Welt seinen Lohn goldenen Korns darbietet. Aber die Stunde wird kommen, wo jene leeren Hülsen in Bündel gesammelt und verbrannt werden. Derselbe Vorgang fand bei der Versuchung in der Wüste statt, wo der Satan weichen mußte. Jesus behauptete seinen Platz.
„Aber”, kann gefragt werden, „wie kann man wissen, wann es Zeit ist, einzuschreiten und den Feind zu vernichten? Wann sollen die Schnitter ihre heilige Arbeit vollständiger und endgültiger Trennung beginnen?” Die Antwort gibt uns Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft. In ihrem Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” lesen wir (S. 571): „Erkenne dich selbst, und Gott wird dir Weisheit und Gelegenheit zu einem Sieg über das Böse geben”. Dieses Wort „Gelegenheit” wird sicher jeden veranlassen innezuhalten, falls er geneigt sein sollte, sich übereilt dazwischenzudrängen und für sich selber ein wenig zu ernten. Denn wenn Gott nicht nur die Gelegenheit, sondern auch die Weisheit gibt, rechtzeitigen Gebrauch von etwas zu machen, wäre es dann nicht weise, lieber auf Ihn zu warten, als zu versuchen, etwas voreilig zu erzwingen? Es brauch einer nicht nach einer „Gelegenheit” zu jagen oder sie mit vorbedachter und vorsätzlicher Absicht herbeizuführen. Er braucht sie nicht herbeizuführen. Er braucht nur auf sie zu warten. Und sie kommt sicher, wenn wir das Prinzip und nicht eine Person regieren lassen. Gott wird für die Gelegenheit natürlich und unvermeidlich sorgen, wie Er einen Tisch in der Wüste bereitet oder ein anderes menschliches Bedürfnis befriedigt.
Aber vor allem darf man nicht vergessen: „Erkenne dich selbst!” Man darf nicht mit Zorn und Groll im Herzen gegen das Unkraut vorgehen. Man muß zuerst die völlige Unpersönlichkeit des Irrtums sehen. Erst dann und nicht eher kann man das Unkraut ausjäten, ohne dem Weizen zu schaden. Denn die Erntezeit des Geistes ist in jedem einzelnen Bewußtsein. Es muß einer sein Herz so vollständig erforscht, seine Beweggründe so ehrlich zergliedert und seine geistige Arbeit so wirksam getan haben, daß er wirklich christlich ausgerüstet ist, sich seinem Bruder zu nähern. Dann kann er, „rechtschaffen in der Liebe”, wie der Apostel sagt, ruhig in das Erntefeld gehen und ohne Erregung sagen, was er sagen muß, und tun, was er tun muß, und zwar in solch christlicher Weise, daß alle in Betracht Kommenden gesegnet werden.
Sei geduldig, wartendes Herz! Unsere Führerin schreibt: „Es erfordert den Geist unseres gesegneten Meisters, einem Menschen seine Fehler zu sagen und so Gefahr zu laufen, um des Rechttuns willen und um unserem Geschlecht zu nützen, sich menschliches Mißfallen zuzuziehen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 571). Es erfordert sittlichen Mut und Reinheit der Absicht, die nicht in einem Augenblick erlangt wird. Es ist nicht leicht, ruhig hinzustehen und zu sehen, wie sich gefällig scheinende Maskerade als wirkliche Aufrichtigkeit aufspielt, zu finden, daß schön klingende Worte nicht immer von täglichen Taten begleitet sind. Warten lernen ist eine große Errungenschaft, aber Gott vertrauen lernen ist noch größer; denn „Gott spricht immer; aber es gibt so viele Geräusche”, wie jemand gesagt hat. Wenn wir jedoch durch dieses Getümmel des sterblichen Gemüts hindurch Gottes Stimme hören und sicher sein können, daß das Gebot zu handeln von Ihm und nicht von unserem eigenen sehnsüchtigen Denken gekommen ist, können wir auch sicher sein, daß Er, der das Gebot gibt, nicht nur dieses, sondern auch uns bei der Ausführung schützen wird.
Und während wir auf diese klare Aufforderung göttlicher Führung warten, laßt uns wissen, daß nichts Heimtückisches, das die Leute betäubt und schwindlig macht, in eine Mentalität gelangen kann, die wahr und ehrlich ist und immer Gott sucht! Bei der gegenwärtig in der ganzen Welt herrschenden äußersten Not ist es dringend nötig, daß jeder loyale Bürger wacht und auf der Hut ist; denn das Flüstern des Unkrauts ist im ganzen Lande verbreitet. Sowohl im stillen als auch hörbar, durch Vortäuschung und Kunstgriffe wird versucht, den Mut der kriegführenden Demokratien zu zerstören. „Verwirrung”, flüstert das Unkraut, „Trennung, Uneinigkeit, Wettstreit, Mißverständnis, Unzuständigkeit, Verdacht, Unfähigkeit”. Sein Name ist Legion. Und anderweitige Beweggründe, wie sie wehen und winken und flüstern und in der Hoffnung zu täuschen ihre giftigen, zersetzenden, entmutigenden Einflüsterungen aussenden! Aber wer treu und standhaft ist, erkennt sie als das, was sie sind, und ist unbewegt. Er weiß, daß hinter dem ganzen Lügengewebe des Irrtums kein Jota wahrer Substanz ist.
Dies sind seltsame Jahre, wie die Welt sie nie zuvor gekannt hat. Vielen von uns mag es manchmal zumute gewesen sein, als ob sogar die Sonne vergessen hätte zu scheinen. Ein schreckliches Gewitter ist über unser Weizenfeld hereingebrochen und hat es mit grausamen eisigen Fingern ergriffen; aber Gott sei Dank hat es standgehalten und wird weiter standhalten, komme, was wolle. Und wenn das Gewitter schließlich in der Ferne erstirbt, wenn kraftlose Machtvorspiegelungen kurze Zeit sich gebrüstet haben und vergangen sind, werden wir die Sonne wieder scheinen sehen, und der Weizen, prächtiger als je, wird stolz aufrecht stehen und seine köstliche Frucht des Beweises hochhalten.
Mrs. Eddy schreibt (Miscellaneous Writings, S. 313): „Das Feld schwenkt seine weiße Fahne, die Schnitter sind stark, die reichen Ähren reif, die Scheune ist bereit. Bittet daher den Herrn der Ernte, daß Er mehr tüchtige Arbeiter sende, die Vorräte für eine Welt zu sammeln”.