Einer alten Tradition gemäß interessierte sich Pontius Pilatus für die Philosophien seines Zeitalters, und selbst vor dem tragischen Tage, an dem Jesus von Nazareth vor ihm stand, soll oft die berühmte Frage: „Was ist Wahrheit?” von seinen Lippen gefallen sein. Um so trauriger scheint daher das Bild, das uns im Evangelium des Johannes von Pilatus entworfen wird, als er jene Frage an Jesus stellte und nicht einmal auf die Antwort wartete! Hier war der Mensch aller Zeiten, der die Wahrheit gewiß am klarsten definieren konnte; ja, man kann wohl sagen, daß des Meisters ganze menschliche Erfahrung eine Darlegung der Wahrheit über Gott und Seinen Ausdruck, den Menschen, war.
In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” schreibt Mary Baker Eddy, jene große Verkünderin der Wahrheit für unser Zeitalter (S. 49): „Die Frauen unter dem Kreuz hätten die Frage des Pilatus beantworten können. Sie wußten, was sie zur Hingabe inspiriert hatte, was ihren Glauben beschwingt, die Augen ihres Verständnisses geöffnet, die Kranken geheilt, Übel ausgetrieben und die Jünger veranlaßt hatte, zu ihrem Meister zu sagen: ‚Es sind uns auch die Teufel untertan in deinem Namen‘”
Kinder, die im Heim von Christlichen Wissenschaftern aufwachsen, lernen früh, die Wahrheit in den Blättern der Bibel und des Buches „Wissenschaft und Gesundheit” zu suchen und dort die Lösung für ihre Probleme zu finden. Ein kleiner Junge, den ich kenne, zum Beispiel, bringt, sowie er sich nicht wohl fühlt, diese wunderbaren Bücher zu seiner Mutter und bittet sie, ihm schnell aus den „Wahrheitsbüchern” vorzulesen. Welch passender Titel für diese geistigen Botschafter! Die Heilige Schrift ist das große Schatzhaus der Wahrheit; und das Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft ist, wie sein Name andeutet, der geistige Schlüssel, der jene Wahrheiten, die für die „Gesundheit der Völker” sind, aufschließt — praktisch anwendbar macht.
Die erste Erklärung, die man auf dem Vorsetzblatt von „Wissenschaft und Gesundheit” findet, ist das oft zitierte Wort des Meisters (Joh. 8:32): „Ihr ... werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen.” Und auf der zweiten Seite des Vorwortes schreibt unsre Führerin: „Die Frage, was ist Wahrheit, wird durch Demonstration beantwortet — durch das Heilen von Krankheit wie von Sünde; und diese Demonstration zeigt, daß das christliche Heilen am meisten Gesundheit verleiht und die besten Menschen zeitigt.”
Wenn jemand daher die Wahrheit definieren möchte, so sollte er zuerst in der Wissenschaft die Natur der großen Ersten Ursache, nämlich Gottes, ausfindig machen. In dem Lied des Moses, wie es im 32. Kapitel, des fünften Buches Mose zu finden ist, lesen wir diese lapidare Erklärung über den Vater im Himmel: „Er ist ein Fels. Seine Werke sind unsträflich; denn alles, was er tut, das ich recht. Treu ist Gott und kein Böses an ihm; gerecht und fromm ist er.” Eins der sieben Synonyme, die Mrs. Eddy bei ihrer Definition von Gott anwendet, ist Wahrheit; und wenn es sich auf die Gottheit bezieht, wird das Wort „Wahrheit” (im Englischen) immer mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben.
Was sind denn nun die Eigenschaften der Wahrheit? Gewißlich muß Gott als Wahrheit Unsterblichkeit besitzen, denn könnte die Wahrheit etwa Anfang und Ende haben? Die Wahrheit muß gleichbedeutend mit Licht sein, denn verscheucht nicht jede Wahrheit, wie das Licht, stets ihr Gegenteil, den Irrtum und das Dunkel? Sicherlich kann man sich doch die Wahrheit nicht ohne Gesetz, Gerechtigkeit und Kraft vorstellen. Und bedeutet die Kraft der Wahrheit nicht gleichzeitig Harmonie? Disharmonie bedeutet das, was gesetzlos, vergänglich und daher machtlos und unwirklich ist.
So wird die Wahrheit, die Erzeugerin von Licht, Harmonie, Gesetz und Kraft, ganz natürlich der Ausdruck, mit dem Mrs. Eddy den heilenden Christus bezeichnet. Immer wieder spricht sie von der Christus-Wahrheit, und ganz mit Recht, denn bedeutet der Christus nicht die heilende Kraft Gottes? Die Wahrheit ist ewig wirksam, indem sie von allen Lügen erlöst. Mit welchem Mut der Überzeugung kann daher der Wissenschafter einem Problem der Krankheit, der Sünde oder irgend einer Phase der Disharmonie entgegentreten, wenn er mit dem Bewußtsein der unbesiegbaren Christus-Wahrheit ausgerüstet ist!
Lauscht dieser erleuchtenden Erklärung aus „Wissenschaft und Gesundheit” (S. 230): „Wenn Krankheit wirklich ist, gehört sie der Unsterblichkeit an; wenn wahr, ist sie ein Teil der Wahrheit. Würdest du es unternehmen, mit oder ohne Arznei eine Eigenschaft oder einen Zustand der Wahrheit zu zerstören? Sind aber Krankheit und Sünde Illusionen, dann wird uns das Erwachen aus diesem sterblichen Traum oder dieser sterblichen Illusion zu Gesundheit, Heiligkeit und Unsterblichkeit führen.” Und dann folgen noch diese offenbarenden Worte: „Dieses Erwachen ist das ewige Kommen des Christus, das Vor-Erscheinen der Wahrheit, welches Irrtum austreibt und die Kranken heilt.”
Ein Kranker, der an dem, was sein Arzt Rheumatismus genannt hatte, litt, suchte Beistand von einem Christlichen Wissenschafter. Im Laufe der Unterhaltung mit seinem Patienten sagte der Wissenschafter: „Wissen Sie, wenn es wahr ist, daß Sie Rheumatismus haben, dann existiert im Weltall nicht so etwas wie ein unendlich guter und gerechter Gott.” Der Patient ging fort mit einem gewissen Gefühl der Verwirrung. „Aber ich weiß doch, daß ich Rheumatismus habe!” erklärte er laut. Dann jedoch entdeckte er, wie er selbst die Argumente des Wissenschafters überdachte: „Ja aber, wenn das wahr ist, dann gibt es keinen guten Gott; und es muß doch einen guten Gott geben.” Endlich kam er zu dem logischen Schluß: „Und wenn es einen guten Gott gibt, dann kann der Mensch keinen Rheumatismus haben.” Immer schwächer wurden die Einwendungen des sterblichen Gemüts: „Aber du weißt doch, daß du Rheumatismus hast!” und immer stärker wurden die Erklärungen der Wahrheit, daß das Ebenbild eines guten Gottes keinen Rheumatismus haben kann; und als er einige Wochen später seinen Helfer in der Wissenschaft wieder besuchte, war das Bild der Disharmonie gänzlich verschwunden. Die Christus-Wahrheit hatte ihn frei gemacht; oder, richtiger gesagt, der Christus, das Verstehen der Wahrheit-mit-uns, offenbarte und demonstrierte die Tatsache, daß die Krankheit nicht wirklich war, daß sie in Gottes harmonischem Weltall gar nicht vorkommt, und daß der Mensch Gottes ewig frei von Krankheit ist.
Wie natürlich und instinktiv erklärt der Anhänger der Christlichen Wissenschaft im Angesicht von Unfall, Disharmonie oder Krankheit: „Es ist nicht wahr!” Wenn er lernt, daß nur die Harmonie wirklich und wahr ist, so weist er schnell und entschieden jede Suggestion zurück, die von Unwissenheit in bezug auf Gott, die Wahrheit, ausgeht. Und was geschieht, wenn das unharmonische Bild von glücklicheren, harmonischeren Begriffen ersetzt worden ist? Er hat die Frage des Pilatus beantwortet; er hat bewiesen — wenn auch vielleicht nur in geringem Maße, so hat er doch tatsächlich bewiesen — daß weder die Krankheit, der Mißklang noch das Unharmonische irgendwelchen Namens oder irgendwelcher Natur von der göttlichen Wahrheit ausgehen, und daß sie daher nur illusorische Hirngespinste des sterblichen Gemüts sind.
Und so hat er das freudige Vorrecht gehabt, den Beweis zu erbringen, daß die Christus-Wahrheit, die vor Jahrhunderten unsern großen Wegweiser befähigte zu erklären und zu beweisen, daß das Reich der Harmonie nahe herbeigekommen ist, daß dieses Christus-Bewußtsein zu dieser Stunde, in diesem Augenblick, gegenwärtig ist für die Erlösung der ganzen Menschheit.
 
    
