Treue ist ein erhabenes Wort! Sie läßt ein unerschütterliches Herz erkennen und bezieht sich auf eine hohe Sache. Treue erstarkt durch Überzeugung. Sie führt reine Opferwilligkeit in ihrem Wappen. Ihre Kennzeichen sind Zweckmäßigkeit und Wachsamkeit, und Gewissenhaftigkeit ist ihre Schutzwehr. Wie die Liebe „duldet" die Treue „alles".
Der Apostel Paulus gab der Welt ein leuchtendes Beispiel der Treue. Sobald er einmal erfaßt hatte, was Christus war, traten an Stelle von Fehlern, die er in der Vergangenheit gemacht hatte, neue Leistungen. Er gab Muße, die bequeme Übereinstimmung mit der überwiegenden Mehrheit, die Billigung anderer und selbstgerechte Selbstzufriedenheit auf und fand seine Freude daran, die Menschen zu einem Eingehen auf die Botschaft des Meisters zu erwecken.
Die Laufbahn des Apostels machte nach Ansicht der Menschen seltsame Dinge nötig. Sie staunten, daß er darin beharrte. Daß er sich weder durch Hohn und Wiedervergeltung, noch durch Gefängnis und körperliche Geißelung davon abbringen ließ, empörte ihre Wertbegriffe. Sie sagten auch, er sei rasend, erzeigten ihm aber anderseits wider Willen Achtung.
Die vollständige und heilige Treue, mit der Christus Jesus die ihm von Gott verordnete Bestimmung erfüllte, war für Paulus der Ansporn, dem er nacheiferte. Er suchte es dieser höchsten geistigen Treue in solchem Maße gleichzutun, daß ihn das Böse in keiner Verkleidung lange abhalten konnte. Er mochte irren, er mochte straucheln; aber er lernte, sich durchzuringen und seinen Weg vorwärts fortzusetzen.
Paulus neigte nicht dazu, einer Pflicht auszuweichen. Er machte es sich täglich zur Aufgabe, dem Meister nachzufolgen. Er suchte in den Menschen, mit denen er in Berührung kam, eine reine Vorstellung von dem auferstandenen Christus zu wecken. Wie er doch die Kirchen und ihre oft verdrossenen und gleichgültigen Mitglieder ermahnte, wie er arbeitete und sie durch Vernunftgründe und Beweise zu überzeugen suchte! Er wußte, daß Kirchen gegründet und erhalten werden mußten; daher erklärte er die herrliche Verheißung und Erfüllung des Werkes Christi nicht nur vor Königen, vor Landpflegern und vor Gelehrten, sondern auch den Armen und Unwissenden.
Jedem wahren Christlichen Wissenschafter brennt im tiefsten Herzen diese Treue zu Gott. Die Anstrengungen des Bösen, sie zu dämpfen oder zu trüben, haben wenig Erfolg; denn der Christliche Wissenschafter hat gesehen, wie die unermüdliche Tätigkeit, das Beten ohne Unterlaß, die nie versagende Besorgtheit seiner Führerin ihm und anderen greifbare Segnungen brachten. Er hat ihr Beispiel vor Augen. Er weiß, wie mutig, wie entschlossen, wie demütig sie dem Meister auf dem Wege nachfolgte, den er gegangen war. Er weiß, daß er jetzt diesen Weg zu gehen hat, damit er gangbar bleibe und die Welt ihn sehen kann.
An einem stürmischen Mittwoch überlegte eine Christliche Wissenschafterin, ob sie zur Kirche gehen solle oder nicht. Sie pflegte die Gottesdienste regelmäßig zu besuchen und machte verneinenden Einflüsterungen gewöhnlich keine Zugeständnisse. Nicht der Regen hielt sie ab, er hatte sie noch nie abgehalten, sondern ein schweres Herz. Eine Schwierigkeit in der Schule war nicht überwunden, und sie hatte ein krankes Kind. Als sie einen Augenblick von dem düstern Bild wegsah und sich fragte, inwieweit sie willens war, das Rechte zu tun, kam ihr in den Sinn, daß sie allen Ernstes Anspruch auf ihr Recht des Kirchenbesuchs erheben würde, wenn ein falsches Gesetz einer Gewaltherrschaft ihr untersagte, in die Kirche zu gehen. Es war ihr klar, daß ihr die Türen dadurch offen blieben, daß sie zur Kirche ging; und sie mußten weit offen blieben, damit alle sie sehen und suchen.
In Übereinstimmung mit diesem Erwachen ging sie in die Mittwochabendversammlung. Es war jedoch nur ein teilweiser Gehorsam; denn sie setzte sich, ein müdes, niedergeschlagenes Mitglied, in die hinterste Ecke. Das Lesen und die Lieder beruhigten sie; als aber das Abgeben von Zeugnissen an die Reihe kam, dachte sie: „Ich weiß, daß ich heute sicher nicht sprechen werde." Dann sprach jemand, und aus der Stimme klang innige Dankbarkeit heraus. Es folgten verschiedene andere Zeugnisse. Sie war dankbar für die Heilungen dieser Leute, und freute sich mit ihnen. Dann fiel ihr ein, daß auch sie geheilt worden war. Und als eine Pause eintrat, stand sie auf; ihr Herz war von Dankbarkeit gegen Gott erfüllt. Sie sprach nur kurz, da sie sich nicht vorbereitet hatte; aber Freude hatte über die Traurigkeit gesiegt.
Sie hatte der Versuchung widerstanden, ihr Recht der Redefreiheit selber zu unterdrücken; sie hatte die Versuchung, ihre Dankbarkeit zu verschweigen, in die Flucht geschlagen. Als sie die Kirche verließ, kamen ihr Jesajas Worte, die ihr geholfen hatten, das Selbst zu überwinden, nicht aus dem Sinn (Jes. 40, 9): „Zion, du Predigerin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du Predigerin, hebe deine Stimme auf mit Macht, hebe auf und fürchte dich nicht; sage den Städten Juda's: Siehe, da ist euer Gott!" Als sie nach Hause kam, fand sie, daß es dem Kind besser ging, und sie konnte die Schwierigkeit in der Schule mit ihm von einem geistigen Gesichtspunkt aus besprechen. Am nächsten Tage klärte sich die Lage, die so lang ein Stein des Anstoßes gewesen war, und es folgte Eintracht und Fortschritt. Als sie dem Feind widerstand und ihm seine vermeintliche Fähigkeit, das Denken niederzudrücken, entzog, erkannte sie ihn als das, was er war: eine Täuschung.
Was wäre im Hinblick auf die trügerischen Einflüsterungen des fleischlichen Sinnes, der sich der Bewegung der Christian Science zu widersetzen sucht, eine der aussichtsreichsten Arten, vorzugehen? Wahrscheinlich die wiederholte Einwendung, der Christliche Wissenschafter soll in seinem hohen Streben nachlassen; er brauche sich nicht so standhaft bemühen; er könne ein wenig gleichgültiger sein; er brauche nicht ganz so begeistert vorgehen; ferner der bequeme Hinweis, daß er sehr pflichtgetreu gewesen sei, und daß es auf eine einmalige Unterlassung nicht ankomme; daß der einzelne nicht wichtig sei; daß er augenblicklich in keinem Ausschuß sei; daß er genug Kirche und Kirchenarbeit für eine Woche gehabt habe; daß die Familie gewisse Anforderungen stelle; daß er Ruhe brauche. Ein wenig Rechtfertigung, ein wenig Selbst, und was haben wir, wenn wir es durch alle Mitglieder vervielfachen? Die Kirche von Laodizea—Lauheit; die Kirche von Sardes—Stillstand. „Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt" (Offenb. 2, 7).
Wenn alle Mitglieder dem Feind allgemein zustimmten, wäre die Folge, daß der Fremde leere Bänke vorfände. Wir verwerfen eine solche Möglichkeit als sinnwidrig. Sie ist sinnwidrig. Sie ist in Christian Science unmöglich. Und sie ist in der Bewegung der Christian Science unmöglich, wenn die Christlichen Wissenschafter die Anregung und die Freude erkennen, die der Kirchenbesuch und Kirchenarbeit bringen. Wir alle wissen dankbar, daß es unmöglich ist, wenn jeder treue Christliche Wissenschafter sich vornimmt, daß es nie vorkommen darf, und entsprechend handelt. Es braucht auch nicht nur einigermaßen vorzukommen. Wenn aus der Grundmauer eines Hauses an einer Stelle ein Stück abbröckelt, sagen wir nicht: „Sieh, wieviel noch steht", sondern wir bessern die schadhafte Stelle sofort aus. In der Bewegung der Christian Science dient uns Treue zur Verhütung, zum Schutz, zur Erhaltung, zur Förderung. Es kann wahrheitsgetreu gesagt werden, daß Tausende, Hunderttausende die Bewegung der Christian Science unterstützen. Aber niemand kann unsern Platz ausfüllen; niemand kann unsere Pflicht erfüllen; wir können unsere persönliche Verantwortung keinem andern übertragen.
Der ernste Christliche Wissenschafter lernt den Herrn, seinen Gott, von ganzem Herzen und von ganzer Seele, von ganzem Vermögen, mit seinem ganzem Gemüt und Geist lieben. Er lobpreist Gott ehrfurchtsvoll. Er liebt die Wahrheit und dient ihr. Und er beweist in zunehmendem Maße, daß er die irdischen Dinge opfern kann, die ihn hindern würden, Gott von ganzem Herzen zu dienen. Er denkt daran, wie viel die Christian Science für ihn bedeutet. Sein Eifer erkaltet nicht. Seine Freude schwindet nicht dahin. Er sehnt sich, Dienste zu leisten. Er ist treu!
Die Arbeit jedes Anhängers des Christus, der Wahrheit, ist für uns alle von unschätzbarem Wert. Zahllose Christliche Wissenschafter stellen sich treu in den Dienst der Wahrheit, die sie lieben. Sie unterstützen die Gottesdienste, Geschäftssitzungen, Vorträge, Vorstände und Ausschüsse durch ihr Gebet. Sie sind nicht abwesend von dem Posten, auf den die Pflicht sie stellt. Und sie verstehen überdies, daß ihre persönliche Anwesenheit an und für sich noch nicht genügt, den Sieg über Pläne des Feindes davonzutragen. Sie wissen, daß in den Gottesdiensten und in der Kirchenarbeit Liebe, göttliche Liebe, Liebe, die weise, innig, sanft, dankbar, freudig ist, not tut und angewandt werden muß; denn wenn diese reine Liebe in genügendem Maße gefühlt wird, bringt sie betrübten Herzen, die Heilung suchen. Ermutigung und Hoffnung, Ruhe und Zufriedenheit. Daher sucht der Christliche Wissenschafter, ehe er in die Kirche geht, sich von Sorgen, seinen eigenen Schwierigkeiten und materiellem Denken frei zu machen. Reines Herzens und hingebungsvoll geht er dann mit Lobpreisung zu Seinen Toren ein, und ist sich des heilenden Christus bewußt, der alle segnet.
Diese treuen Christlichen Wissenschafter machen bei ihrer Kirchenarbeit in großem Maße von der Intelligenz Gebrauch, die Geduld, Frohsinn, Ehrlichkeit, unpersönlichen Mut und liebevolle Freundlichkeit in sich schließt. Sie hüten sich vor abfälligem Urteilen, das wie ein tückischer Pfeil darauf hinzuweisen sucht, daß ein anderes Mitglied weniger willens sei, zu arbeiten, und sehen statt dessen die Wachsamkeit und Treue, die zu dem von Gott geschaffenen Menschen gehören. Wie können sie denn selber Treue veranschaulichen, wenn sie nicht erkennen, daß Treue eine unveräußerliche Eigenschaft des Menschen ist? Da sie Mrs. Eddys Geheiß befolgen: „Seid unermüdlich wachsam; verlasset nie den Posten geistiger Beobachtung und Selbstprüfung" (Miscellaneous Writings, S. 154), machen sie es sich zur Gewohnheit, sich zu fragen: Bete ich für unsere geliebte Kirche in bestimmtem oder verneinendem Sinne? Denke ich mit geheimem Vorbehalt an die vom Gemüt versammelte Gemeinde und Sonntagsschule? Hege ich alberne Hoffnungen, ist mein Denken überhebend, bin ich geistig wenig vorbereitet? Oder ist es meine Gewohnheit, meinen Ausblick zu erfrischen, ihn zu einem größeren Erfassen der unendlichen Möglichkeiten zu erwecken und zu erweitern, und mich diesem Bestreben immer aufs neue zu widmen? Verwende ich für materille Kirchentätigkeiten die Zeit, die bisher geistigem Denken gewidmet war? Oder achte ich darauf, daß ich außer den bisher wissenschaftlichem Beten gewidmeten Stunden vor und bei dem Verrichten jener Pflichten geistig denke? Bin ich eingedenk, daß an erster Stelle das Verlangen stehen muß, Gott zu verherrlichen? Denke ich daran, daß meine wirkliche Arbeit darin besteht, die Tätigkeit des Christus im Bewußtsein aufrecht zu erhalten, damit sie dem Fremden, der—wie ich einst—in seiner Not einen Ausweg sucht, Ermutigung und die Versicherung des Guten bringen kann?
Wenn der Fürst dieser Welt zu diesen Getreuen kommt, die sich wachsam, wohlüberlegt Rechenschaft über sich selber geben, findet er kein Eingehen, weil sie damit beschäftigt sind, auf das Erkennen des Christus einzugehen. Sie haben wie Paulus „Glauben gehalten".
So tritt der treue Christliche Wissenschafter ins tägliche Leben. Er hütet sich vor den schlauen Wegen des Bösen und wird nicht davon berührt. Er läßt sich zum Beispiel durch die zornigen und boshaften Worte eines andern nicht kränken und wird nicht aufgeregt. Er vergeudet keine Zeit damit, daß er sich fragt, was für eine schlimme Folge der Vorfall für ihn haben werde. Sein erster Gedanke ist: das Böse durch das Gute zu verdrängen. Er hat sofort das Verlangen, seinem Bruder wahres Erbarmen zu erzeigen. Er überlegt vielleicht, daß die Sonne uns nicht murrend einschärft, warm zu werden, nicht mehr zu frieren, sondern einfach scheint. Anstatt Vorwürfe zu machen oder scharf zurechtzuweisen, betet er also darum, das Gute auszustrahlen, seinen Bruder zu segnen. Er wendet sich an Gott, schöpft tief aus der unerschöpflichen göttlichen Liebe, und findet die so sehr nötige Weisheit und Freundlichkeit in Genüge vorhanden. Und wenn er die Herausforderung des Irrtums recht gehandhabt hat, geht er aus der Erfahrung mit einem höheren Sinn selbstloser Liebe hervor und weiß gewiß, daß auch sein Bruder einigermaßen Frieden gefunden hat.
Treu ist der Christliche Wissenschafter, der beharrlich liebt, wenn es unmöglich scheinen will, zu lieben; der statt Rechtfertigung Demut übt; der sich freut, obgleich er nichts Erfreuliches sieht; der dankbar ist, wenngleich alles finster aussieht, und der entschlossen ist, treu zu sein, wenn jede schmeichelnde Spitzfindigkeit des Irrtums rechtfertigen würde, daß er unterlasse, Gutes zu tun. Er drückt seine Liebe zu Gott aus. Er zeigt, daß er Christi Jesu Werk und Mary Baker Eddys Werk würdigt. Er ist dem, was ihm anvertraut ist, treu.
Mrs. Eddy schreibt in „Miscellaneous Writings" (S. 343): „Unter den mannigfaltigen sanften Klängen, welche die sich immer wieder einstellende Erinnerung erfüllen, ist der lieblichste:, Du bist getreu gewesen!'"
