Mit Bezug auf das Gleichnis, das Jesus erzählte, als er bei dem Pharisäer Simon zu Gaste war, schreibt Mary Baker Eddy auf Seite 363 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift”: „Er beschrieb zwei Schuldner, die beide von ihrem gemeinsamen Gläubiger ihrer Verpflichtungen enthoben wurden; der eine schuldete eine große Summe, der andere eine kleinere., Welcher wird ihn am meisten lieben?‘ lautete die Frage des Meisters an Simon den Pharisäer; und Simon erwiderte:, Dem er am meisten geschenkt hat.‘ Jesus hieß die Antwort gut und gab allen auf diese Weise eine Lehre, der er die bemerkenswerte Erklärung an das Weib folgen ließ:, Dir sind deine Sünden vergeben.‘ ”
Diese Erklärung des Meisters wird uns in der Christian Science herrlich klar gemacht durch Mrs. Eddys Enthüllung, daß Gott das Prinzip ist, das Sünde nicht entschuldigt, sondern sie dadurch vergibt, daß es sie zerstört. Wir verstehen die Bedeutung der Erklärung noch besser, wenn wir erfahren, daß das im Neuen Testament mit „vergeben” übersetzte Wort im Griechischen die Bedeutung von „wegsenden”, „gehen lassen” oder „freigeben” hatte. Und wenn wir das englische Wort für „vergeben” in seiner ursprünglichen Bedeutung anwenden, finden wir, daß es „vollständig geben” bedeutet. Gott gibt betreffs oder an Stelle der falschen Annahme die wahre Idee, und wenn den Menschen die Christusidee zum Bewußtsein kommt, verschwindet die falsche Annahme, wird der Irrtum berichtigt, die Sünde zerstört. Es handelt sich dabei um keine Verzeihung.
Unsere Vergebung muß also unserseits das Verlangen, die Bereitwilligkeit in sich schließen, vergeben—freigegeben—zu werden. Die Frage ist nicht: Wieviel vergibt uns Gott? sondern: Wieviel von Seiner Vergebung sind wir willens, anzunehmen?
Kann irgend jemand sagen, daß wir keiner Vergebung bedürfen—daß wir nicht der Wahrheit an Stelle unserer falschen Annahmen bedürfen? Tut uns also nicht Vergebung not? Wollen wir sie? Suchen wir sie?
Bitten wir, wenn wir im Gebet des Herrn sagen: „Vergib uns”, wirklich um Gottes Vergebung oder nur um Verzeihung? Das Prinzip verzeiht nie im üblichen Sinne des Worts, sondern Gott, das Gemüt, die göttliche Liebe, gibt uns die rechte Idee, die Wahrheit an Stelle des Irrtums. Daher sollten wir uns fragen: Inwieweit sind wir bereit, diese Art Vergebung zu empfangen und von ihr Gebrauch zu machen? Der Irrtum macht geltend, daß er in jedem Falle anderer Art sei, und er muß daher jedem Fall entsprechend behandelt werden, gerade wie Fehler beim Zusammenzählen. Die rechte Antwort, die rechte Lösung ist im Gemüt immer vorhanden.
Jesus verband Liebe mit Vergebung, als er sagte: „Welchem wenig vergeben wird, der liebt wenig.” Umgekehrt ist es einleuchtend, daß jemand, der wenig Liebe zur Wahrheit hat, nicht bereit ist, viel von dem zu empfangen, was die Wahrheit zu geben hat: die Vergebung der Wahrheit. Wer wenig liebt, schätzt nicht alles, was die Liebe uneingeschränkt zu verleihen hat, und kann daher nicht Nutzen daraus ziehen. Der selbstgerechte, selbstzufriedene Pharisäer ist sich nicht bewußt, daß er der Vergebung bedarf.
Nur wenn Liebe und Demut den Weg bahnen, lernt das menschliche Herz einsehen, daß ihm Heilung not tut, kann es seine eigenen Schwächen erkennen und die Vergebung der göttlichen Liebe ersehnen und dafür empfänglich werden.
Die Liebe gibt wahrhaft in vollstem Maße! Sie erleuchtet und ist die Substanz alles wahren Fortschritts und aller wahren Entfaltung. In dem Maße, wie wir die Schönheit und Vollkommenheit des reinen Gemüts wahrnehmen und ersehnen, lieben und schätzen lernen, vergibt uns dieses Gemüt. „Die Metaphysik löst Dinge in Gedanken auf und tauscht die Dinge des Sinnes gegen die Ideen der Seele ein” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 269). Das ist die Vergebung des Gemüts.
Wenn wir die Dinge des Geistes lieben lernen, befreit uns der Geist nach und nach von den Fühlern des materiellen Sinnes. Er gibt uns Erleuchtung, Stärke und Mut, „die Tiefen der Gottheit” zu erforschen und unsern Blick beständig zu der freudigen, furchtlosen Freiheit des geistigen Daseins zu erheben. Das ist die Vergebung des Geistes, der Seele.
Die göttliche Liebe scheint wie das Licht auf alle. In dem Maße, wie wir uns nach ihr sehnen, uns ihr zuwenden, empfänglicher für sie werden und mehr auf sie eingehen, enthüllt sie uns ihre Lieblichkeit, aber auch ihre geistigen Forderungen. Das ist die Vergebung der göttlichen Liebe.
Jesus verband die Vergebung von Sünden mit dem Heilen der Kranken. Auch hier muß wieder die Bereitwilligkeit vorhanden sein, die Wahrheit anzunehmen und den Irrtum vollständig zurückzuweisen. Die Heilung von Krankheit kann zuweilen leichter anzunehmen und herbeizuführen sein als die Heilung von Sünde; aber Jesus zeigte, daß die Christuskraft zur Vergebung von Sünde so verfügbar ist wie zur Heilung von Krankheit. In beiden Fällen ist die Wahrheit an Stelle des Irrtums, Liebe an Stelle des Hasses, Glaube an Stelle der Furcht usw. das Heilmittel.
Zu den letzten Worten Jesu am Kreuz, die uns berichtet sind, gehört sein Ausspruch: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!” Dieses Gebet zeigt, daß Unwissenheit der Vergebung bedarf.
Die Frage der Vergebung schließt alle Heilung und Erneuerung, allen geistigen Fortschritt in sich. Dadurch, daß wir Gott widerspiegeln, können wir beweisen, daß das Wort Gottes wahr ist; wir können dadurch die Macht des Gemüts ausdrücken, die Unwissenheit, Sünde und Krankheit heilt. Das Wort Gottes, des Guten, bewirkt die Heilung, und wir können es ausdrücken, es bekunden. Auf diese Weise hat des Menschen Sohn auf Erden Macht, Sünde und Krankheit zu vergeben. Es ist seine Aufgabe, es zu tun.
Man muß sich auch selber vergeben in dem Sinne, daß man willens sein muß, alles aufzugeben, was den falschen Sinn des Selbst ausmacht. Dieser wichtige Punkt, sich selber zu vergeben, geht aus den verschiedenen englischen Übersetzungen des Satzes im Gebet des Herrn hervor: „Vergib uns unsere Schulden, wie wir unsern Schuldigern vergeben”, und: „Vergib uns unsere Fehler, wie wir denen vergeben, die sich gegen uns verfehlen.” Was kann gegen uns sündigen oder sich gegen uns verfehlen? Nur Irrtümer des persönlichen Sinnes wie falsches Denken, falsche Annahmen, Irrtümer aller Art, die gegen unsere Zeit, unsere Gesundheit, unsere Versorgung, unsere Freude, unsern Frieden und unsere Gemeinschaft mit Gott verstoßen.
Sich selber vergeben bedeutet, alle dem Guten ungleichen Gedanken durch geistig wahre Ideen ersetzen, und wir können dies nur dadurch tun, daß wir das unendliche Gemüt und die göttliche Liebe bitten, uns diese heilenden, heiligen Gedanken zu geben. Rechte Gedanken, Gottes Ideen, sind uns zuteilwerdende göttliche Kundwerdungen, die uns segnen und ermutigen; und wenn wir sie offenen Sinnes aufnehmen, bewirken sie Heilung.
Stets in der Gemütsverfassung sein, die Gott um Vergebung bittet, heißt bereit sein, Ihn widerzuspiegeln, und dieses Wirken der Wahrheit und der Liebe geistig und nie versagend zu bekunden.
Wie wichtig also dieser Satz im Gebet des Herrn ist, und wie viel Dank wir Mrs. Eddy schulden, die uns auf Seite 17 in Wissenschaft und Gesundheit die geistige Auslegung gegeben hat, die den Kern der ganzen Frage enthält: „Liebe spiegelt sich in Liebe wider”!
