Das Gebet stellt das Verlangen des menschlichen Gemüts dar, den himmlischen Vater zu erreichen. Durch Hoffnung, Bußfertigkeit, Bitten, Flehen und Behaupten fördert es das Denken, bis dieses das Verständnis erreicht, das Ruhe und Frieden in dem Einssein mit Gott findet. Das Gebet des Herrn — das Gebet, das ein jeder Christ in Ehren hält, welcher Konfession er auch angehören mag — bietet verschiedene Formen der Einstellung, um gewissermaßen das Ohr der Allwissenheit zu erreichen. Anrufung, Anbetung, Bitten, Reue, Bekräftigung des Gesetzes — sie alle sind in seinen heiligen Worten einbeschlossen.
Das Gebet in seiner höchsten Bedeutung ist mehr als ein Bitten. Es ist mehr als ein Flehen oder ein Ritual der Anbetung. Es ist das Gesetz Gottes, der Wille des Vaters, der sich im individuellen Bewußtsein geltend macht und die geistige Vollkommenheit des Menschen als des geliebten Kindes der Liebe enthüllt. Der Antrieb selbst, uns im Gebet Gemüt zuzuwenden, deutet die unaufhörliche Wirksamkeit des göttlichen Gesetzes an, die das Gemüt und seinen Ausdruck in dem unendlichen Plan des Guten vereinigt. Das wahre Gebet hat seinen Ursprung in Gott, nicht im eigenen Selbst, und ist untrennbar verbunden mit dem einen unendlichen Gemüt, dem Prinzip alles dessen, das wahr ist. Das Gebet sowohl wie dessen Erhörung, das Verlangen sowie seine Erfüllung, zeugen von der Gegenwart und Macht des einen alles in sich schließenden Gottes, des Guten.
Mary Baker Eddy, die Entdeckerin der Christlichen Wissenschaft, sagt in ihrer Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1900 (S. 10): „Alles, das Gutes bewirkt, ist eine Offenbarwerdung Gottes, die das Gute bekräftigt und entfaltet.“ Um mit Gewißheit des Erfolges beten zu können, muß man das göttliche Gesetz verstehen, in seinem Wesen und Sein im Einklang damit stehen, und es in seinen Handlungen befolgen. Bei solchem Gebet gibt es kein ringendes Flehen, sondern die ruhige Sicherheit des Gedankens, der sich einer Macht unterwirft, die er niemals in Frage stellt.
Gottes Gesetz ist Sein Wille. Es ist die unwandelbare Kraft des Geistes, die beständige Erscheinungsform der Wirksamkeit des Gemüts, die ewig am Werke ist, um ein vollkommenes, geordnetes Weltall geistiger Ideen zu schaffen und zu erhalten. In der wirklichen geistigen Selbstheit des Menschen werden die Gesetze oder beständigen Kräfte der Intelligenz, der Liebe und des Verständnisses, die des Vaters Willen offenbaren, immerdar individualisiert. Diese Kräfte des Geistes machen das Bewußtsein des Menschen aus und drücken sich unwandelbar in Güte, Nützlichkeit, Reinheit, Verstehen und Vollkommenheit aus. Der Mensch kann sich nicht von ihnen trennen, denn seine Aufgabe und Funktion ist es ja, sie zu verkörpern.
Wahres Gebet besteht nicht darin, daß ein kleines Gemüt sich in hilflosem Flehen an ein größeres wendet, sondern es ist vielmehr der Beweis, daß das eine unendliche göttliche Gemüt seine eigene Harmonie und Allheit durch seine Idee dartut. In der sogennten menschlichen Erfahrung ist das Gebet das Erwachen des individuellen Bewußtseins zu der Erkenntnis von der Allheit Gottes und der eigenen Vollkommenheit in der Wissenschaft als der untrennbaren Widerspiegelung des Gemüts. Das Gebet Christi Jesu am Grabe des Lazarus bewies sein Verständnis von den unwandelbaren Kräften oder Gesetzen, die den Menschen mit ewigen Banden mit seinem Schöpfer verbinden. Bei der Gelegenheit sagte er (Joh. 11:41, 42): „Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast. Doch ich weiß, daß du mich allezeit hörest.“
Da das göttliche Gesetz, der Wille Gottes, in geistigen Tatsachen Ausdruck findet, ist es die göttliche Ordnung des Seins, die geistige Wirklichkeit — die Wahrheit. Daher sang der Psalmist, der dies erkannt hatte (Ps. 119:42): „Dein Gesetz ist Wahrheit.“ Wie in der Wissenschaft der Mathematik, so ist auch in der Wissenschaft des Seins die Wirklichkeit Ordnung, und die Ordnung Gesetz.
Wenn das Gebet als Bekräftigung des göttlichen Gesetzes gebraucht wird, so ist es eine Vergegenwärtigung der geistigen Wirklichkeit oder Ordnung, die nicht umhin kann, die scheinbaren menschlichen Übel zu überwinden. Christus Jesus definierte das Gebet, als er sagte (Joh. 8:32): „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen.“ Die geistigen Wahrheiten, welche die Christliche Wissenschaft unserm Verständnis enthüllt, verscheuchen die irrigen, unharmonischen Wahnbilder der materiellen Sinne, und beweisen, daß sie unwahr sind. Daher ist die geistige Wahrheit in bezug auf eine Lage das Gesetz, das den Fall regiert.
Der Anhänger der Christlichen Wissenschaft schätzt sein Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ von Mary Baker Eddy sehr hoch ein als ein höchst wertvolles Gesetzbuch; denn er findet darin Erklärungen geistiger Tatsachen, göttliche Gesetze oder unwandelbare Kräfte, welche die ihn beschwerenden Irrtümer überwinden. Wenn er zum Beispiel fürchten sollte, daß sein Verständnis von Gott nicht hinreichte, um seine menschlichen Probleme zu lösen, so mag er bei seinem Forschen in jenem Lehrbuch heilende Erklärungen wie die folgende finden (S. 505): „Geist teilt das Verständnis mit, welches das Bewußtsein erhebt und in alle Wahrheit leitet.“ Hier wird eine große geistige Tatsache enthüllt, eine Offenbarung von der unwandelbaren Erscheinungsweise, in der das Gemüt sich selber ausdrückt, — eine göttliche und ewige Wahrheit. Diese Wahrheit ist die Tatsache von seinem wirklichen Dasein und ist das Gesetz, das seinen Fall regiert. Wegen seiner Wahrhaftigkeit überwindet es in dem Maße, wie es verstanden wird, die menschliche Annahme in bezug auf begrenzte Verständnismöglichkeiten, und dies ist erhörtes Gebet.
Angenommen, ein Mensch bedarf sehr der Weisheit und Führung. Bei seinem nachdenklichen Durchforschen des Lehrbuches mag er die folgende Erklärung finden, die das göttliche Gesetz darlegt, das seinen scheinbaren Bedarf deckt: „Liebe inspiriert, erleuchtet, bestimmt und führt den Weg.“ Diese Wahrheit offenbart die ununterbrochene Wirksamkeit der Liebe, die beständige Kraft des Geistes, die ewige Wirkung des göttlichen Willens. Wenn er versteht, daß dies die Tatsache seines Daseins ist, so wird er befähigt, es zu demonstrieren als das Gesetz, das seinen Fall regiert.
Die Christliche Wissenschaft, das Gesetz Gottes, entfaltet die ewigen Tatsachen oder Wahrheiten in bezug auf die geistige, wirkliche Schöpfung und demonstriert sie als die unwandelbaren Kräfte oder Energien des unendlichen Gemüts. Ihr Lehrbuch legt diese Wahrheiten dar in Ausdrücken, die verstanden und zur Überwindung der Wahnbilder des materiellen Sinnes gebraucht werden können.
Der volle Wert des bejahenden oder bekräftigenden Gebetes wird offenbar, wenn man sich klarmacht, daß seine Wahrheitserklärungen Darlegungen des göttlichen Gesetzes sind. Der 23. Psalm ist ein klassisches Beispiel des bejahenden Gebetes. Es erklärt große geistige Wahrheiten: „Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue. ... Er erquicket meine Seele.“ Diese tröstlichen Worte, die in soviel Schönheit gefaßt sind, haben sich als wunderbar heilkräftig erwiesen, denn sie erkennen die Ordnung des wirklichen Seins an, und jede Erklärung ist eine Bekräftigung des göttlichen Gesetzes.
Christus Jesus benutzte den vollen Wert des bejahenden Gebetes als eine Wirksamkeit des göttlichen Gesetzes, als er sagte (Joh. 4:50): „Dein Sohn lebt“ — eine Tatsache, die er auch sogleich dem sogenannten menschlichen Sinn veranschaulichte.
Das göttliche Gesetz, der Wille Gottes, geschieht. Die Christliche Wissenschaft lehrt den Menschen, sich mit diesem Gesetz in Einklang zu bringen, indem er die Tatsachen der geistigen Wirklichkeit zu erklären und zu verstehen lernt. Die Christliche Wissenschaft hat dem Gebet neue Kraft verliehen, indem sie es zur intelligenten Vergegenwärtigung göttlicher, unwandelbarer Kräfte, die den Plan der Liebe ausdrücken, erhoben hat. Die beständigen Kräfte des Geistes, die unwandelbaren Energien der Liebe, stehen allen denen zur Verfügung, die sich im Gebet bestreben, des Vaters Willen zu verstehen und zu tun.
