Ich hatte immer geglaubt, „erwachsen zu werden“ bedeute, zu lernen, etwas so zu tun, wie es andere von einem erwarteten, und sich nicht daran zu stoßen. Oder man würde schließlich auf alles eine Antwort wissen. Eltern scheinen geduldiger zu sein, wenn man klein ist, und sie sagen gewöhnlich, was sie meinen. Wenn sie sagen: „Mach die Tür zu, aber leise!“, weiß man, was sie wollen. Sie erinnern einen daran, wenn man es vergißt und etwas Nasses auf die Möbel stellt. Manchmal lachen sie darüber. Wenn es sich um wichtige Dinge handelt — wie Vorsicht beim Überqueren der Straße, Regeln beim Schwimmen, zu kommen, wenn sie rufen —, achten Eltern darauf, daß man sie niemals vergißt; meine Eltern taten das jedenfalls.
Ich glaube, es half, wenn wir zu Hause und in der Sonntagsschule über die Seligpreisung sprachen: „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen“ Matth. 5:5. und darüber, daß die, die reinen Herzens sind, Gott schauen werden. Siehe Matth. 5:8. Da ich es den Erwachsenen recht machen wollte und sie mir zeigten, wie ich etwas richtig tun konnte, ging alles verhältnismäßig gut.
Zumindest war es so, als ich klein war.
Als ich aber Teenager wurde, schien sich alles zu ändern, oder vielleicht änderte ich mich. Es schien fast unmöglich, es jemandem recht zu machen. Niemand konnte genau erklären, warum sich einige der Regeln geändert hatten oder warum mein Zimmer mit einem Mal aussehen sollte, als ob es für die Zeitschrift Schöner Wohnen qualifizieren müßte.
Mit zwölf oder dreizehn Jahren stellt man oft fest, daß man auf seine Altersgenossen keinen Eindruck macht, wenn man brav ist. Also ändert man sich eben etwas. Versucht man aber, ein wenig seinen Willen durchzusetzen, dann sind die Eltern nicht gerade erfreut. Wenn man so viele schwierige Entscheidungen treffen muß, was man tun soll und wie man sich zu verhalten hat, kann alles manchmal ziemlich verwirrend werden. Vielleicht wünscht man sich dann, daß man wieder einfachen Regeln folgen könnte, obwohl man sich nicht ständig auf ältere Leute verlassen möchte.
Ich will mich hier nicht beklagen, sondern nur versuchen, etwas zu erklären, was für mich sehr wichtig war. Es hat damit zu tun, wie man erwachsen wird und lernt, so zu handeln, daß man nicht nur selbst zufrieden ist, sondern auch andere zufriedenstellt, die sich auf einen verlassen.
Es brachte mich oft zur Verzweiflung, wenn ein Lehrer Aufgaben stellte, ohne zu erklären, wie wir an sie herangehen mußten. Meine Eltern waren viel umgezogen, und da ich oft die Schule wechseln mußte, versäumte ich so manches — nicht nur wichtige Punkte in Algebra und Geschichte z. B., sondern auch, wie man sie selbst finden und anwenden kann. Meine Noten in diesen Fächern waren sehr schlecht, aber ich wollte nicht wie diejenigen erscheinen, die besondere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen suchen, indem sie den Lehrer — oder Klassenkameraden — um Hilfe bitten. Ich begann mich zu bemitleiden, weil ich so viel im Unterricht versäumt hatte und keiner mir sagte, wie ich es nachholen konnte.
Du kannst dir vorstellen, wie mir zumute war, als einer meiner Lehrer — eine Lehrerin in der Sonntagsschule der Christlichen Wissenschaft — dem Sinn nach sagte: „Gott ist Gemüt, und Er kann dir sagen, was du wissen mußt.“ Als ich später darüber nachdachte, fand ich es einfach toll, daß sie das im Unterricht erwähnte, denn ich hatte ihr nicht einmal gesagt, was mich bedrückte. Sie sprach auch über andere Punkte, die allmählich mein Interesse erweckten. Sie sagte, daß wir leben, weil Gott Leben ist; daß wir lieben, weil Er Liebe ist, und daß wir eine erstaunliche Intelligenz besitzen, weil Gott Gemüt ist.
An jenem Sonntag kamen wir in der Klasse auf Menschen in der Bibel zu sprechen, die nicht wußten, wie sie etwas tun — oder sein — sollten, was von ihnen verlangt wurde, und die auch daran denken mußten, andere Menschen zufriedenzustellen. Niemand sagte Joseph, wie er sich als Gefangener in einem fremden Land zu verhalten habe oder wie er Träume deuten könne. Und die Bibel berichtet nicht, daß Joseph in Volkswirtschaftslehre oder in der öffentlichen Verwaltung unterrichtet wurde, bevor er während der großen Hungersnot als Verwalter über ganz Ägypten eingesetzt wurde.
Mose war schüchtern; er hatte nicht gedacht, daß er ein Führer sein könnte. Er mußte eine gute Ausbildung gehabt haben, denn er war als Sohn der Tochter des Pharaos aufgewachsen. Aber niemand hatte ihm erklärt, wie er die Israeliten in das Gelobte Land führen sollte.
Der Herr sagte zu Mose: „Ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Kinder Israel, aus Ägypten führst.“ Mose antwortete: „Wer bin ich, daß ich zum Pharao gehe...?“ Er fragte, was er sagen solle, um die Israeliten zu überzeugen, daß Gott ihn tatsächlich gesandt hatte.
Gott antwortete: „Ich werde sein, der ich sein werde“, und Er sagte zu Mose: „So sollst du zu den Kindern Israel sagen: ‚Ich werde sein‘, der hat mich zu euch gesandt.“ 2. Mose 3:10, 11, 14.
Nachdem sie Ägypten verlassen hatten und während der langen, langen Jahre in der Wüste auf dem Weg in das Gelobte Land wandte sich Mose immer wieder an Gott, um zu erfahren, wie er das Volk führen sollte. Und Gott zeigte ihm stets auf ganz praktische Weise, was er sagen und tun sollte.
Als ich mir die Bibelgeschichten ansah, die wir all die Jahre in der Sonntagsschule gelesen hatten, fiel mir auf, daß sie alle etwas gemein hatten. Abraham, Jakob, Joseph, Mose, David, Nehemia, die Propheten — alle vertrauten auf Gott, ganz gleich, in welcher Situation sie sich befanden, und Seine Macht und Liebe half ihnen stets.
Nehemia war eine meiner liebsten biblischen Gestalten. Als er die Mauer um Jerusalem wieder aufbaute, war er in jeder kritischen Lage überzeugt, daß Gott für Sein Volk sorgen und die Anschläge und Hindernisse seiner Feinde vereiteln würde. „Und ich sagte ihnen [den Einwohnern von Jerusalem], wie gnädig die Hand meines Gottes über mir gewesen war... Und sie sprachen: Auf, laßt uns bauen!“ Neh. 2:18.
Als ich über diese Bibelgeschichten nachdachte und mir klar wurde, wie wertvoll es war, Gott zu vertrauen, kam ich zu dem Schluß, daß es nichts schaden würde, zu sehen, ob ich nicht auch ehrlichen Herzens der geistigen Macht vertrauen konnte. Ich fand es besonders interessant, daß Joseph, Mose und Nehemia weit mehr bemüht waren, es Gott recht zu machen und Seiner Führung zu folgen, als zu versuchen, es vielen Leuten recht zu machen.
In einem der Psalmen lesen wir: „Herr, ich traue auf dich, laß mich nimmermehr zuschanden werden.“ Ps. 71:1. In gerade dieser Verfassung befand ich mich damals — ich hatte den Wunsch, Gott zu vertrauen und der Verwirrung ein Ende zu machen. Ich fragte mich, was es wohl bedeutete, daß Gott z. B. Gemüt ist. Eine Zeile aus der „wissenschaftlichen Erklärung des Seins“ — der Erklärung aus Mrs. Eddys Buch Wissenschaft und Gesundheit, die jede Woche in der Sonntagsschule vorgelesen wird — lautet: „Alles ist unendliches Gemüt und seine unendliche Offenbarwerdung, denn Gott ist Alles-in-allem.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 468. Diese Erklärung kam mir immer wieder in den Sinn, so daß ich gezwungen war, darüber nachzudenken.
Wenn Gemüt Gott und Alles-in-allem ist, so dachte ich, dann brauchte ich nicht so viel darüber nachzugrübeln, was ich gelernt oder nicht gelernt hatte, oder zu versuchen, es vielen persönlichen Gemütern in der Schule oder zu Hause recht zu machen. Vielleicht sollte ich mich mehr auf das göttliche Gemüt und seine Kundwerdung konzentrieren. Unsere Sonntagsschullehrerin hatte uns so oft die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen erklärt: daß Gott der Schöpfer des Menschen und des Universums ist und somit die Quelle alles dessen, was der Mensch ist, lernt oder braucht; und daß uns Gottes Weisheit und Macht selbst in den alltäglichsten menschlichen Situationen zur Verfügung steht. All das Gute, das Gott ist und weiß, wird vom Menschen widergespiegelt. Das bringt uns zu der Tatsache, daß der Mensch eine individuelle Widerspiegelung ist, kein Abklatsch.
Je mehr ich darüber nachdachte, desto logischer schien es mir, mich auf die göttliche Macht zu verlassen, die alles erschafft — auf Gott —, um klar sehen zu können. Je mehr ich mich dann auf das eine göttliche Gemüt verließ, um so klarer erkannte ich, welche Fähigkeiten ich als Mensch, als Ausdruck der unendlichen Intelligenz, besaß. Das fesselte wirklich meine Aufmerksamkeit, denn die Möglichkeiten waren endlos.
Ich war auch überzeugt, daß der große Ich Bin Mose und die Israeliten deshalb so erfolgreich führte, weil Er die einzig wahre Macht war (und ist), und nicht weil es eine eindrucksvolle Geschichte abgab. Ich folgerte: Wenn die Allerhabenheit des einen Gemüts, des einen Ich Bin, eine offenbarte Wahrheit und ein Schutz für jene Menschen in der Bibel gewesen war, konnte sie auch mich führen.
Es ist schwer zu beschreiben, welche Änderung diese Entdeckung herbeiführte, denn sie zeigte sich mehr in Empfindungen als in Äußerlichkeiten. Irgendwie war ich in der Schule nicht mehr so verkrampft, und ich genierte mich weniger, wenn ich mich meldete und um Erklärungen bat. Und ich fing an, mir die wichtigen Dinge zu merken und logischer zu denken, so daß meine Leistungen allmählich besser wurden.
Im Grunde genommen bedeutet vielleicht „erwachsen werden“ zu der Erkenntnis gelangen, daß Gott Gemüt ist und daß wir uns darauf verlassen können, daß Er uns auf alles vorbereitet, was von uns verlangt wird. Wenn wir Seiner Gegenwart vertrauen, haben wir also immer die Hilfe, die wir benötigen.
Ehrlich gesagt, einer der Gründe, warum mir diese Zeiten des Studierens und Betens so viel Freude machten, war, daß ich es von mir aus tat. Niemand sagte mir, wie ich etwas finden konnte oder wonach ich suchen sollte; auch tat ich es nicht, um jemanden zufriedenzustellen. Es war etwas ganz Besonderes zwischen Gott und mir.
