Nach dreiundzwanzigjähriger Ehe und nachdem wir drei prächtige Kinder großgezogen hatten, reichte mein Mann die Scheidung ein und zog von uns weg. Die nächsten eineinhalb Jahre waren ein Kampf; doch sie waren vor allem auch eine Zeit großen geistigen Wachstums.
Ich war dankbar, daß es mir gelang, diese Situation nicht als Problem zu sehen, sondern als eine Gelegenheit, die Wahrheiten zu beweisen, die ich in der Christlichen Wissenschaft gelernt hatte. Natürlich war ich versucht, einem Gefühl von Selbstbedauern und Verbitterung nachzugeben, und es erforderte viel Gebet und strenge Selbstdisziplin, diese Gefühle zu überwinden.
Aber bald entdeckte ich etwas Wunderbares. Ich wurde geistig belebt! Ich studierte die Wahrheit und wandte sie an; ich machte Fortschritte, und ich fühlte die Ergebnisse — ich fühlte die Freude der göttlichen Entdeckung! Das geschah nicht über Nacht; ja, es brauchte viele Monate. Aber die Erkenntnisse der Wahrheit waren so bedeutend und hatten solch eine Wirkung auf mein Leben, daß ich die ganze Erfahrung, die Entdeckung meiner wahren Identität, zu schätzen begann.
Was lernte ich? Ich lernte, daß der Mensch eins mit Gott ist und daß dieses Verständnis die Grundlage für wahres Glück und wahres Wohlergehen bildet. Im ersten Kapitel des ersten Buches Mose heißt es: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.“ 1. Mose 1:27. Mrs. Eddy geht einen Schritt weiter, wenn sie in Wissenschaft und Gesundheit sagt: „Die Heilige Schrift belehrt uns, daß der Mensch zu Gottes Bild und Gleichnis geschaffen ist. Die Materie ist nicht dieses Gleichnis. Das Gleichnis des Geistes kann dem Geist nicht so unähnlich sein.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 475. Ich erkannte, daß die ewige Einheit mit Gott die grundlegende Wahrheit über meine wirkliche, geistige Identität war.
Jeder von uns kann diese tröstliche Tatsache akzeptieren und praktisch anwenden. Das Ebenbild Gottes ist nicht einmal mit Gott verbunden und ein andermal verworfen. Der Mensch kann unmöglich von Gott getrennt sein. Wie einsam man sich auch fühlen mag, die Wahrheit von der untrennbaren Beziehung des Menschen zu dem himmlischen Vater ist immer da; sie dient als Anker — sie erhält, unterstützt und heilt. Mein Begriff von Einheit wurde durch Gebet aus dem menschlichen Bereich in den göttlichen erhoben, wo er in Wirklichkeit hingehört.
Die vielleicht größte Herausforderung lag in der Notwendigkeit, das Gefühl zu überwinden, daß ich nicht mehr gebraucht würde. Nicht nur mein Mann brauchte mich nicht mehr, sondern auch zwei meiner Kinder hatten das Haus verlassen, um zu studieren, und das dritte sollte ihnen in ein paar Monaten folgen. Gerade zur ungünstigsten Zeit fingen sie an, ihre Flügel auszubreiten. Nachdem ich jahrelang einen regen Haushalt geführt hatte, sollte ich nun bald allein leben.
Doch dann machte ich in den folgenden Worten Mrs. Eddys eine neue Entdeckung: „Als aktiver Teil eines unermeßlichen Ganzen identifiziert Güte den Menschen mit dem allumfassenden Guten. So kann sich jedes Mitglied dieser Kirche über die oft wiederholte Frage: Was bin ich? zu der wissenschaftlichen Antwort erheben: Ich bin fähig, Wahrheit, Gesundheit und Glück zu vermitteln, und das ist der Fels meines Heils und mein Daseinszweck.“ Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, und Verschiedenes, S. 165.
Ich erkannte, daß es meine Aufgabe und mein Erbteil war, die Freude, Herrschaft und Güte zum Ausdruck zu bringen oder zu bezeugen, die ich, eine Idee Gottes, als Erbe besaß. Ich mußte alle, mit denen ich zu tun hatte, bewußt an diesen Eigenschaften teilhaben lassen, doch zuerst mußte ich sie mir selbst zu eigen machen. Um sich mit diesen geistigen Eigenschaften zu identifizieren und sie sich zu eigen zu machen, muß man sich ernsthaft bemühen, sie Tag für Tag und Stunde um Stunde im Bewußtsein zu hegen und zum Ausdruck zu bringen. Als ich mir dies zum Ziel setzte, fand ich viele Gelegenheiten, andere zu trösten und zu ermutigen.
In Wissenschaft und Gesundheit lesen wir in dem Kapitel „Ehe“: „Glück ist geistig, aus Wahrheit und Liebe geboren. Es ist selbstlos; daher kann es nicht allein bestehen, sondern verlangt, daß die ganze Menschheit es teile.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 57. Und das hat sich in meinem Fall bestätigt. Mein Glück, das nun auf einer festeren Grundlage basierte als je zuvor, mußte ich einfach mit anderen teilen. Ich hatte den „Fels meines Heils und mein[en] Daseinszweck“ gefunden.
Ich mußte die weitverbreitete irrige Ansicht verneinen, daß die Menschen sterblich seien und ihre Vollständigkeit von einer Partnerschaft abhänge. Der Prophet sagte zu den Israeliten im Exil: „... der dich gemacht hat, ist dein Mann — Herr Zebaoth heißt sein Name.“ Jes. 54:5. Welch tröstlicher Gedanke! Durch die Gemeinschaft mit meinem himmlischen Vater gewann ich einen klareren Begriff von der Vollständigkeit meiner eigenen wahren Identität.
Ich überlegte mir, welche Eigenschaften ich in einem Ehemann für wichtig hielt, und ich arbeitete täglich daran, sie selbst in vollerem Maße zum Ausdruck zu bringen. Ich sah ein, daß ich sie in mein Leben bringen mußte, und zwar nicht dadurch, daß ich einen Mann fand, der diese Eigenschaften ausdrückte, sondern dadurch, daß ich sie in meinem Bewußtsein nährte. Ich erkannte an, daß die göttlichen Eigenschaften beständig vom Menschen widergespiegelt werden, weil Gott und Seine Idee, der Mensch, als göttliche Ursache und Wirkung untrennbar sind. Mir war auch klar, daß wir das demonstrieren können, weil es das göttliche Erbe eines jeden von uns ist.
Einige dieser auf einer geistigen Grundlage beruhenden Eigenschaften, die mir wichtig erschienen, waren Zärtlichkeit, Aufmerksamkeit, Selbstlosigkeit und Humor. Ich gab mir große Mühe, sie anderen gegenüber konsequenter zum Ausdruck zu bringen. Obwohl ich mich nie für eine kritische Person gehalten hatte, achtete ich darauf, daß ich die Menschen weniger hart beurteilte und nachsichtiger und freundlicher war. Ich entdeckte viele Möglichkeiten, mich zu verbessern. Ich konnte aufmerksamer zuhören; ich konnte eine Hand berühren oder jemandem auf die Schulter klopfen, wenn er ein kleines Zeichen wohlwollender Unterstützung brauchte.
Aufmerksam zu sein war ein Kinderspiel! Ich erinnerte mich, wie oft ein liebevolles Telefongespräch meinen Tag gerettet hatte, und ich kannte einige Leute, die Aufmunterung gebrauchen konnten. Manchmal machte ich für jemanden Besorgungen, ein andermal lächelte ich einfach einem Fremden zu.
Selbstlosigkeit fiel mir auch leichter als zuvor. Ich hatte so viel Liebe zu geben, daß ich sie nicht zurückhalten konnte. Bei verschiedenen Gelegenheiten konnte ich mit jemandem, der etwas Ermutigung brauchte, über einige der Erfahrungen sprechen, die ich machte.
Und Humor — der köstliche Humor, der es uns ermöglicht, das Lächerliche zu sehen und über uns selbst zu lachen. Ich lernte, mich selbst nicht so ernst zu nehmen; und als ich mich bewußt bemühte, humorvoll zu sein, empfand ich eine große Erleichterung. All das half mir zu erkennen, daß ich nicht über die Grenzen meines eigenen Bewußtseins hinauszugehen brauchte, um diese wunderbaren Eigenschaften ausgedrückt zu finden.
Eines Morgens erwachte ich dann mit der Gewißheit, daß ich geheilt war. Beim Aufwachen gingen mir die Worte eines geliebten Kirchenliedes durch den Kopf: „Der Christus wird den Traum zunichte machen. ..“ Liederbuch der Christlichen Wissenschaft, Nr. 412. Und in demselben Augenblick erkannte ich die Wahrheit dieser Erklärung. Der Nebel hatte sich aufgelöst, und ich stand auf dem Gipfel des Berges!
Von da an fühlte ich eine herrliche geistige Souveränität. Ich sprudelte über vor Freude. Ein Bibelzitat aus der Lektionspredigt im Vierteljahrsheft der Christlichen Wissenschaft für jene Woche wurde mir erleuchtet: „Siehe, zu Spott und zuschanden sollen werden alle, die dich hassen; sie sollen werden wie nichts, und die Leute, die mit dir hadern, sollen umkommen. Wenn du nach ihnen fragst, wirst du sie nicht finden. Die mit dir hadern, sollen werden wie nichts, und die wider dich streiten, sollen ein Ende haben.“ Jes. 41:11, 12. Ich verstand, daß „alle, die dich hassen“ und „die Leute, die mit dir hadern“ nicht Personen waren, sondern die falsche Annahme, der Mensch könne unglücklich oder unerwünscht sein. Plötzlich wußte ich, daß ich in Wirklichkeit keine körperliche Person, kein Sterblicher war, der von einer anderen Person geschieden war. Ich erkannte, daß alles, was ich erlebt hatte, nur die Versuchung war, zu glauben, ich sei ein unglücklicher und unerwünschter Sterblicher. Und ich konnte diese Annahme zurückweisen, weil sie „wie nichts“ war. Ich hatte die Herrschaft geistigen Verständnisses gewonnen.
Als ich die wunderbar inspirierte Erkenntnis der hier und jetzt gegenwärtigen Vollkommenheit und Vollständigkeit des Menschen erlangte, verblaßte das ganze unangenehme Erlebnis der Scheidung und wurde zu dem, was es in Wirklichkeit war: ein sterblicher Traum. Traurigkeit und Einsamkeit sind keine uns von Gott verliehenen Eigenschaften, und deshalb können sie sich nicht in Gottes Idee, dem Menschen, einnisten. Wie wirklich sie auch zu sein scheinen, sie sind nur das Ergebnis einer Annahme, und der geistig wachsame Gedanke wird solch eine Täuschung nicht anerkennen.
Nach außen hin hatte sich wenig geändert. Ich lebte immer noch allein und arbeitete nun beruflich mit anderen Christlichen Wissenschaftern zusammen. In meinem Leben gab es jedoch viele Beweise der Liebe und Freundschaft, und zwar in einem so reichen Maße, wie ich es nie zuvor gekannt hatte.
Viele Monate später heiratete ich wieder, und in meiner neuen Ehe sehe ich die Eigenschaften ausgedrückt, auf die ich so großen Wert legte. Ich ging die Ehe nicht mit dem Gedanken ein, jemanden zu finden, der mich ergänzen würde, sondern mit einem tiefen Gefühl der geistigen Vollständigkeit und Unabhängigkeit, die in jeder Gemeinschaft stärkende Elemente sind.
Niemand braucht das Gefühl zu haben, er müsse eine besondere Person finden, die Erfüllung und Freude in sein Leben bringt. Jeder besitzt bereits in seinem eigenen, wahren Bewußtsein alle jene Eigenschaften, die zur Vollständigkeit und Zufriedenheit notwendig sind; und diese Tatsache ist beweisbar, wenn man mit seinem himmlischen Vater Gemeinschaft hat.
