Am Danksagungstag rief uns unser Sohn aus fast zehntausend Kilometer Entfernung an, um uns mitzuteilen, er habe „das Mädchen seiner Träume“ kennengelernt. (Genau das waren seine Worte.) Ob er sie zu Weihnachten mit nach Hause bringen dürfe? Drei Tage später rief er erneut an und fragte, ob wir nicht in unsere Weihnachtsfeier auch eine Hochzeit einplanen könnten.
Sie müssen wissen, seit über fünfundzwanzig Jahren hatte ich eine liebenswürdige Antwort auf genau diese Frage irgendeines unserer Kinder einstudiert. Sie kam mir, wie ich meine, gut über die Lippen, und die Vorbereitungen begannen.
Kaum einen Monat später traf das junge Paar mit dem Flugzeug ein. Wir waren gespannt auf das „Traummädchen“ unseres Sohnes. Sie war hinreißend schön! Ihr blondes Haar ließ sich einfach nicht beschreiben! Es reichte ihr fast bis an die Stöckelabsätze. Soweit wir feststellen konnten, aß sie nur Schokolade, und sie war technisch sehr begabt.
Erst am späten Abend konnten mein Mann und ich uns unter vier Augen in unserem Schlafzimmer unterhalten. „Nun“, fragte ich, „was hältst du von ihr?“, obwohl ich viel lieber gleich meine Meinung geäußert hätte. Die Antwort meines Mannes bestimmte für die nächsten Jahre den Ton und hob die Ehe unseres Sohnes und seine Familie aus aller Kleinlichkeit heraus.
„Wir werden nicht weiter über sie nachdenken“, erklärte der künftige Schwiegervater. „Wir werden sie nur lieben.“
Als ich das hörte, wußte ich, daß das das Gesetz der Liebe war. Jesus hatte gesagt: „Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habet.“ Joh. 13:34. Mir war klar, daß unser Wegweiser nicht gesagt hatte: „Zieht zunächst einmal ordentlich übereinander her.“ Konnte ich die Demut und Selbstverleugnung aufbringen, um dem Gebot nachzukommen?
Es klopfte an unsere Tür, und herein schlüpfte unsere Tochter. „Nun?“ fragte sie.
Ich wiederholte die Worte ihres Vaters. In ihrem Gesicht mischten sich Überraschung und Zufriedenheit. Es spiegelte die Empfindungen meines Herzens wider. Wie gern urteilt das menschliche Gemüt, doch wird ihm ein besserer Weg gewiesen, so kann es nachgeben.
Erneut klopfte es an die Tür, und ein weiteres Familienmitglied trat ein. Noch ehe der jüngere Bruder auch nur die Augenbrauen heben konnte, schüttelte seine Schwester den Kopf und sagte: „Vati sagt, wir können nicht über sie reden. Wir können sie nur lieben.“
Ich werde jenen Abend in unserem überfüllten Schlafzimmer nie vergessen. Das war eine Familie, wie Christus Jesus sie lehrte: „Wer Gottes Wille tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“ Mark. 3:35.
An uns alle erging die Aufforderung, Gottes Willen zu tun, indem wir ein weiteres christliches Gebot befolgten. Jesus sagte nämlich: „Richtet nicht nach dem, was vor Augen ist, sondern richtet ein rechtes Gericht.“ Joh. 7:24.
Wenn wir bloße menschliche Meinungen bereits im Keime erstikken und unsere Mitmenschen lieben, richten wir sicherlich ein rechtes Gericht. In Wissenschaft und Gesundheit von Mary Baker Eddy heißt es: „Das eine Gemüt, Gott, enthält keine sterblichen Meinungen. Alles, was wirklich ist, ist in diesem unsterblichen Gemüt eingeschlossen.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 399.
Meinungen sind Eintagsfliegen. Sie kommen und gehen. Die Liebe, die von Gott kommt, von der göttlichen Liebe, gründet sich nicht auf Meinungen. Sie nimmt weder zu noch ab. Sie ist in dem unveränderlichen Guten verankert. Wenn wir diese Liebe ausdrücken, lieben wir einander so, wie Jesus es uns aufgetragen hat, d. h., wir reagieren nicht auf menschliche Ansichten oder auf unvollständige und fehlerhafte Meinungen.
Das ist die christusgleiche Liebe, die heilt. Sie öffnet uns eine neue Dimension und gibt uns Licht, so daß wir die geistige Unschuld und Ganzheit eines jeden von uns erfassen können. Diese geistige Natur des Menschen, unser eigentliches Selbst, ist immer gegenwärtig. Sie ist keine „Zugabe“. Vielmehr hat Gott den Menschen so erschaffen und damit bewirkt, daß der Mensch sie auch beständig ausdrückt. Liebe ist das Licht, das den vollkommenen, unendlichen Maßstab für den Menschen offenbart.
Diese Lehren der Christlichen Wissenschaft waren für die Erziehung unserer Kinder unentbehrlich. Sie erwiesen sich als geistiger Sauerteig, als heilender, umwandelnder Einfluß! Ich habe Stellen aus der Bibel und aus Wissenschaft und Gesundheit angeführt, um zu zeigen, warum unseren Kindern die Aufforderung ihres Vaters so natürlich erschien, ihre neue Schwägerin zu lieben.
Kürzlich (fast vier Jahre später) fragte unsere vielgeliebte Schwiegertochter: „Was habt ihr alle gedacht, als ich an jenem Morgen aus dem Flugzeug ausstieg und ihr mich zum erstenmal saht?“ Wir sahen uns alle an, dann wieder die junge Mutter mit dem Baby auf dem Arm. Wir lächelten, als schließlich einer von uns sagte: „Oh, über dich haben wir nicht weiter nachgedacht. Wir haben dich nur geliebt.“
