Als meine Mutter vor zwei Jahren verstarb, wusste ich nicht, wie ich darüber hinwegkommen sollte. Obwohl mich die Wahrheit tröstete, dass meine Mutter als Gottes Bild und Gleichnis unsterblich ist, war ich traurig, weil ich sie nicht sehen konnte. Und es gelang mir nicht, diese Traurigkeit von mir abzuschütteln. In den ersten Tagen nach ihrem Tod war ich oft besorgt, dass sie Furcht haben oder sich einsam fühlen könnte. Ich sehnte mich danach zu wissen, wo sie war, und fühlte mich hilflos, da ich nicht mit ihr sprechen und ihre Hand halten konnte.
Als ich zur Beerdigung nach Hause flog, war ich von Trauer überwältigt. Voller Kummer starrte ich aus dem Fenster auf den vom Sonnenuntergang orangerot gefärbten Himmel. Bald war unser Flugzeug völlig in Dunkelheit getaucht. Genauso wie ich mich fühle, dachte ich. Ganz gleich, wie sehr ich mich bemühte zu verstehen, dass Muttis wahre, geistige Identität nicht gestorben sein konnte — mir fehlte ihr liebes Gesicht, ihre Stimme und ihr helles Lachen.
Als ich den Flughafen verließ, bemerkte ich, wie der Mond am schwarzen Himmel aufging. Es war ein hell leuchtender Vollmond. Ich musste daran denken, dass das Licht des Mondes gar nicht vom Mond kommt, sondern von der Sonne. Die Sonne schien genauso hell wie eh und je. Das helle Licht, das der Mond widerspiegelte, war ein Beweis für die Existenz der Sonne. Zwar konnte ich die Sonne nicht sehen, aber das hieß nicht, dass sie nicht schien.
Konnte ich nicht auf dieselbe Weise an meine Mutter denken? Auch wenn der Himmel dunkel war, wusste ich doch, dass die Sonne die andere Seite der Erde erwärmte, erhellte und nährte. Genauso war es mit Mutti. Vielleicht konnte ich nicht mit eigenen Augen sehen, wie ihr Leben jetzt aussah, doch gewiss konnte ich mir bewusst sein, dass ihr Leben andauerte — und dass es die Erfahrungen, die sie machte, erhellte und erwärmte.
Ich freute mich die Wahrheit besser zu verstehen, dass Gottes Kind als Bild Gottes ewig in dem einen Gemüt lebt. Inspiriert von diesen Gedanken, erinnerte ich mich an ein gern gesungenes Kirchenlied:
Der Weg führt aufwärts, und
das Ziel rückt näher,
Gedanken licht und frei
erheben sich;
Mein Schauen der Unendlichkeit
wird klarer,
Den Saum der Ewigkeit berühre ich. Christian Science Liederbuch, Nr. 64.
Im Laufe der nächsten Monate fühlte ich mich getröstet in dem Wissen, dass meine Mutter geistig weiterlebte. Trotzdem gab es Augenblicke, wo ich traurig war und sie mir schrecklich fehlte. Eines Nachmittags erwähnte dann eine Freundin, dass eine Bekannte von ihr sehr bekümmert war über den Tod eines Familienmitglieds. „Sie ist traurig, weil sie glaubt, dass diese Angehörige wirklich tot ist“, sagte meine Freundin.
Im gleichen Moment verstand ich den Grund für meine eigene immer noch wiederkehrende Traurigkeit. Obwohl ich überzeugt war, dass die geistige Identität meiner Mutter unsterblich ist, hatte auch ich an dem Glauben festgehalten, dass sie in gewisser Weise tot war. Hätte Gott aber ein Wesen schaffen können, das zugleich tot und lebendig sein kann? Nein! Also folgerte ich: Wenn meine Mutter lebt und unsterblich ist, kann sie nicht zugleich auch sterblich oder tot sein. Ihr geistiges Leben — ihr einzig wirkliches Sein — ist ihr Leben und ist immer ihr Leben gewesen.
Dieses Verständnis brachte mir schließlich die Heilung. Ich weiß jetzt, dass mein Kummer auf den falschen Glauben zurückzuführen war, dass Tod und Leben gleichzeitig existieren können. Das können sie aber nicht. So wie die Sonne nicht aufhört zu existieren, nur weil die Erde sich gedreht hat, so hat auch meine Mutter nicht aufgehört zu existieren, nur weil ich sie nicht mehr sehen kann. Obgleich ich nicht genau wissen kann, wie ihre Erfahrung jetzt aussieht, weiß ich doch, dass Mutti nie von Gott, ihrem Vater und ihrer Mutter, getrennt wurde. Mir ist außerdem klar geworden, dass ihr liebes Gesicht, ihre angenehme Stimme und ihr Lachen nur einige der ewigen Eigenschaften ihrer geistigen Natur zum Ausdruck brachten und dass diese Eigenschaften niemals ausgelöscht werden können.
Wenn ich jetzt ein Bild von meiner Mutter sehe oder an die vielen wunderbaren Erinnerungen denke, die ich an sie habe, dann weine ich nicht mehr, sondern freue mich. Ich bin so dankbar, dass ich Gottes zärtliche Fürsorge für jedes Seiner Kinder verstehe und spüre.
