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Geistiger Fortschritt im neuen Millennium

Aus der Oktober 2000-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Wenn man den Fortschritt im allgemeinen oder speziell den moralischen Fortschritt in der Welt messen will, wird man vielleicht die modernsten Neuerungen in der Technologie, der Kommunikation und im Verkehrswesen in Betracht ziehen oder auch großzügig ausgestaltete Wohnräume für Telearbeit. Doch ich habe bei dem Gedanken an Fortschritt die Eigenschaften im Sinn, die wir ausdrücken, Eigenschaften, die zur Verbesserung der Verhältnisse und zum Weltfrieden führen. Frieden fängt zu Hause an, in der familie. Meine Familie konnte großen Fortschritt durch Frieden erleben. Aber das war nicht immer so. Als kleines Kind hörte ich von älteren Familienangehörigen über die Hintergründe ihrer Einwanderung in die Vereinigten Staaten. Es muss ein schmerzliches Erlebnis gewesen sein, denn ihre Erinnerungen daran waren nicht glücklich, ja es waren bittere Erinnerungen. Im Zusammenhang damit zeigten sie auch Vorurteile gegen Juden. Das vertrug sich schlecht mit der Tatsache, dass wir von deutschen Juden abstammten, etwas, was ich schon immer geahnt hatte, jedoch erst als Erwachsene bestätigt bekam. Es war unerträglich für mich, antisemitische Äußerungen von Menschen zu hören, die mir sehr nahe standen, zumal wir selbst Juden waren!

Können Sie sich die Verwirrung vorstellen, die solches Dilemma in einem kleinen Kind stiftet? Die Auseinandersetzung mit solchen Konflikten in der eigenen Familie ist schmerzlich. Wenn Juden, die ihre Heimat verloren haben, zu Antisemiten werden, wendet sich ihr Hass und ihre Furcht nach innen. Das ist der Anfang einer Verhaltensweise, die nicht nur anderen schadet, sondern auch einem selbst. Daher überrascht es nicht, dass negative Verhaltensweisen und krankhafte Süchte in der Familie auftraten. Verbale Misshandlung wirkte sich ebenfalls sehr negativ auf den Familienkreis aus, wie auch die ständig wiederholte Behauptung, dass das Leben voller Enttäuschungen sei. All das suchte sich in Form von Gewalttätigkeit Ausdruck.

Damit zu leben war nicht leicht. Doch da ich nicht wusste, wie ich diesen Verhaltensweisen wirksam entgegentreten sollte, glitt auch ich in destruktive Bahnen ab. Im Laufe der Jahre waren mir Konflikte und Verwirrung zu etwas so Alltäglichem geworden, dass mein Denken und Handeln nur noch mehr Verwirrung und inneren Aufruhr auslösten. Meine erste Ehe endete in einer Scheidung.

Beim Suchen nach der Wahrheit wurden im Laufe der Jahre meine Gebete, die zunächst von purer Verzweiflung geprägt waren, mehr von einem tieferen Verständnis von dem lebendigen Gott erfüllt. Ich las in meiner Bibel. Ich lieh mir Bücher aus, die Mary Baker Eddy geschrieben hat. Zuerst war es eine Freundin und später waren es viele Freunde, die mir bei meinem Streben nach geistigem Fortschritt halfen. Viele beteten für mich. Durch ein besseres Verständnis von meiner Beziehung zu unserem Vater-Mutter Gott konnte ich die Fehler, die ich — und andere — begangen hatten, letztlich als der Vergangenheit zugehörig abtun. Die Konflikte nahmen ab und ich fand inneren Frieden.

Als ich durch Gebet wahren Frieden gefunden hatte, wollte ich auch die Gründe vergeben, die dazu geführt hatten, dass meine Familie so in Bitterkeit verfallen war. Ich befasste mich mit den historischen Umständen und las, wie die Politiker sich schrittweise dem Nazismus zugewandt und wie viele andere zugeschaut hatten, als die Ereignissse ihren Lauf nahmen. Ich fragte mich, wie ich selber mich wohl verhalten hätte, wenn ich vor achtzig Jahren gelebt hätte. Und ich begann um Vergebung zu bitten für Menschen, die ich nie kennen gelernt hatte.

Bei meinem Gebet für die, die daran beteiligt gewesen waren, die Saat der Furcht zu streuen, erlebte ich etwas Überraschendes. Der innere Frieden blieb mir erhalten, ganz gleich, wie furchtbar das geschichtliche Geschehen war, mit dem ich mich befasste. Ich hasste nicht mehr. Meine Gebete — selbst für andere, mir unbekannte Menschen — waren ein Geschenk für mich selbst. Sie befreiten mich von Gedanken der Aggression und Gewalttätigkeit. Von dieser Freiheit wollte ich mehr erleben und so betete ich weiter.

Je mehr ich betete, umso mehr Klarheit bekam ich. So schwer es zum Beispiel war, beim Aufwachsen in diesem Teufelskreis von Zorn und Gewalt gefangen zu sein, so trieb mich doch gerade das dazu, Gerechtigkeit und Trost zu suchen. Auch wenn die ältere Generation Groll und Bitterkeit an den Tag legte, weil sie ihre Heimat verlassen musste, so war ich doch als Folge davon in einem so freien Land wie den Vereinigten Staaten geboren worden. Das Vermächtnis der älteren Generation veranlasste mich inneren Frieden zu suchen, einen Frieden, den sie nie gefunden hatte. Sie verstand auch nicht ihre Beziehung zu Gott. Ich glaube jedoch, dass ich meine eigene Beziehung zu Gott verstehen gelernt habe, und in gewisser Weise bin ich meiner Familie deswegen zu Dank verpflichtet. Wenn wir den Menschen, unter deren Verhalten wir gelitten haben, für das Gute danken können, das wir trotz allem auszumachen im Stande sind, so ist das geistiger Fortschritt.

Ich muss der älteren Generation auch dafür danken, dass ich, obwohl ich mich lange weigerte, den Entschluss fasste, nach Deutschland zu reisen. Im vergangenen Frühjahr hatte ich Gelegenheit mit meiner Tochter und ihrer Schulklasse Süddeutschland zu besuchen. Ich ging ohne zu zögern und ohne Vorbehalt, doch ich betete die ganze Zeit über. Würde ich in den Gesichtern der Deutschen diejenigen erkennen, die die Juden angegriffen hatten? Nein, ich traf Menschen an, die ihre Kinder so lieben, wie ich meine Tochter liebe, und die ihnen die bestmögliche Welt bieten wollen — eine Welt des Friedens.

Ich lernte Lehrer kennen, die sich für die Idee begeisterten, mit der Schule meiner Tochter ein Schüleraustauschprogramm zu entwickeln. Ich machte die Bekanntschaft eines Physikers, der mir von seiner Arbeit, seinen Kollegen und von neuen Erkenntnissen in der Weltraumforschung erzählte. Ich traf auch mit jungen Leuten zusammen, die mich herzlich in ihrem Heim willkommen hießen und mir von sich und ihren Gedanken über ihre Welt erzählten.

Wir besuchten Museen und sprachen mit Menschen aus allen Schichten. Ein Mann erzählte mir, dass er als Kind im Krieg seine Eltern verloren hatte und nie erfuhr, was mit ihnen geschah. Eine junge Frau verließ am Neujahrstag nach dem Fall der Mauer ihr Zuhause in der ehemaligen DDR, um in Freiheit zu leben. Ich lernte viele Menschen kennen, die mir offen von ihren Kriegserlebnissen und tragischen Verlusten erzählten und sich lebhaft an einem Gedankenaustausch darüber beteiligten, wie globale Konflikte friedlich beigelegt werden können. Wir alle teilten die Hoffnung, dass diese Ideen im neuen Millennium in die Tat umgesetzt werden. Es gab Tränen, tiefes Bedauern wegen der Vergangenheit und viele Gebete für Völkerverständigung und Weltfrieden.

Nach einigen Tagen sagte meine Tochter etwas zu mir, was auch ich seit dem Beginn unserer Reise empfunden hatte, nämlich dass wir uns nicht wie Fremde in einem fremden Land fühlten, sondern dass wir uns unter unseren deutschen Bekannten wie zu Hause fühlten. Sie meinte, sie würde hier gern einmal leben, und ich bestärkte sie darin. Ich konnte nur ein paar deutsche Worte sprechen — allerdings etwas Jiddisch —, doch wie man mir sagte, war meine Aussprache „perfekt". Obwohl ich gespürt hatte, wie trauring meine Verwandten waren, war mir doch nie bewusst gewesen, dass ich den Klang ihrer Sprache in mir aufgenommen hatte — die Freude und Schönheit dieser Sprache! Ich fühlte mich so mit deutschen Eigenarten vertraut und meine Tochter ebenfalls. Oft bemerkte sie: „Die erinnern mich so an dich, Mutti."

Da ich schon so viele Geschenke erhalten hatte, kaufte ich mir erst an den beiden letzten Reisetagen in München ein paar Souvenirs. Das größte Geschenk war jedoch, dass ich mich mehr mit der Familie, aus der ich stamme, verbunden fühlte als je zuvor. Ich habe sie lieb. Ich fühlte mich auch völlig frei von der Tyrannei der Furcht, die vor Jahren in diesem schönen Land herrschte. Ich ging auf denselben Straßen, auf denen Untaten geschehen waren. Auch Beethoven und Einstein waren hier gegangen. Ich hörte nicht auf zu beten, dass Frieden und Liebe die Furcht vertreiben würden, so wie die aufgehende Sonne die dunkle Nacht vertreibt. Gebete sind nicht geografisch beschränkt und ich empfand Frieden in dem Bewusstsein, dass alle Völker der Erde in meine Gebete eingeschlossen sind.

All diese Erlebnisse hatten mich so gefesselt, dass ich Monate brauchte, um mit meinen Gefühlen ins Reine zu kommen. Doch ich betete weiter. Trotz aller Not und allen Leids, das die Menschen bei politischen Kämpfen und gesellschaftlichen Umwälzungen durchmachen, ist doch die Welt immer noch schön! Davon kann mich nichts abbringen. Doch früher habe ich anders gedacht. Daher kann ich mitfühlen mit denen, die sich in einer verzweifelten Lage befinden oder sich in unüberwindlichen Verhältnissen gefangen glauben. Mit den Gebeten fortzufahren ist darum auch der größte moralische Fortschritt, den ich anstreben und meine Tochter lehren kann, besonders das Gebet für alle diejenigen, die durch Bitterkeit mit Blindheit geschlagen zu sein scheinen. Gebet bringt Veränderungen, weil es das Herz umwandelt. Selbst wenn wir uns als Einzelne außer Stande fühlen, Veränderungen zu bewirken, so wird doch das problem durch Gebet dem Einen anheim gestellt, der allmächtig ist, nämlich Gott. Ganz gleich, was unsere Ideologie ist oder wie die Umstände aussehen mögen, Gott erhört alle Gebete.

Gebet erhebt uns, führt uns dazu, richtige Entscheidungen zu treffen, und beschützt uns, wenn wir lauschen. Doch das Beten selbst enthebt uns nicht der pflicht, unter allen Umständen verantwortungsvoll und korrekt zu handeln. Wir sollten uns nicht der Anregung zu rechtem Handeln widersetzen, auch wenn dieses Handeln nicht unseren Vorstellungen entspricht. Als meine Familienangehörigen der Tyrannei entkommen waren, zeigten sie keine Dankbarkeit für die Möglichkeiten, die ihnen die Neue Welt bot. Oder dafür, dass sie noch am Leben waren. Sie hatten immer schwer gearbeitet, aber hier wurden sie Grundbesitzer. Sie kauften sich ein Haus und betrieben ein kleines Geschäft. Anstatt das Gute zu schätzen, das sie empfangen hatten, beschwerten sie sich. Geistiger Fortschritt ist unmöglich, wenn wir Vergangenem nachtrauern und klagen über das, was uns fehlt. Dankbarkeit ist ein Zeichen von Fortschritt.

Es ist ein weiteres Zeichen von Fortschritt, wenn wir den Verhältnissen um uns her Beachtung schenken. Hegen wir Ressentiments oder Vorurteile gegen andere? Gewähren wir Hassgedanken Einlass in unser Leben? Oder treten wir für die Wahrheit ein? Es ist interessant, dass die Münchener Presse zahlreiche Leitartikel über das Vorgehen der Nationalsozialisten veröffentlichte und die Menschen auf die Wahrheit hinwies. Leider schenkte die sich uneinige Regierung und die Bevölkerung im allgemeinen den Warnzeichen keine Beachtung, ähnlich wie Noahs Nachbarn, die den Bau der Arche ignorierten. Als ich durch die Münchener Straßen ging, dachte ich an die mutigen Journalisten, die nicht nur ihren Beruf, sondern auch ihr Leben und das ihrer Familie aufs Spiel setzten, um der Wahrheit Gehör zu verschaffen. Ihre Mühe war nicht umsonst — vorausgesetzt, wir lernen von ihrem Beispiel, dass es nur richtig sein kann, für die Wahrheit einzutreten. Doch damit es richtig sein kann, müssen wir der Rechtschaffenheit Raum geben. Aktives Gebet bringt geistigen Fortschritt, wenn wir aufrichtig lauschen und rechtes Handeln unterstützen in dem Wissen, dass Gott mit uns ist.

Letztendlich hat das Streben meiner Familie nach moralischem Fortschritt uns einander näher gebracht und uns besser verstehen lassen, dass Hass zu Gewalt führt, und zwar nicht nur Gewalt gegen andere, sondern auch gegen uns selbst. Das größte Geschenk, das wir uns selbst machen können, ist anderen zu vergeben. Als ich meiner Familie ihre Rassenvorurteile und ihren Antisemitismus vergab, wurde ich frei von Zorn und lernte eine bessere Mutter zu sein. Meine Tochter hat ein klares Verständnis von Gottes Liebe und Führung und auch davon, wie Menschen, die nicht auf Gott vertrauen, von Furcht ergriffen werden. Gebet macht uns frei durch die Wahrheit, dass Gott allen Raum füllt, jetzt und immer. Das zu wissen — verbunden mit rechtem Handeln — ist der größte moralische und geistige Fortschritt, den wir alle anstreben können. Das Gebet für uns selbst, für andere und für den Weltfrieden läutet die wahre Bedeutung des neuen Millenniums und jeden Millenniums ein — selbst im Zeitalter atemberaubender weltweiter Kommunikation. In jedem Zeitalter stellt aktives Gebet für den Weltfrieden den größten moralischen und geistigen Fortschritt dar.

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