„Du bist einfach nicht gut genug!" Als ich heranwuchs, hatte ich diesen Gedanken sehr oft. Ich verglich mich ständig mit anderen und war dann von mir enttäuscht. Jeder Aspekt meines Lebens erschien mir voller Fehler, ganz gleich, wie viel ich leistete. Aber nicht nur das, ich entdeckte auch schnell die Fehler der anderen.
Als Erwachsene kämpfte ich mit diesem Widerspruch. Ich konnte mich selbst nicht besonders leiden und gleichzeitig fand ich von anderen oft, dass sie mir unterlegen seien. Da ich mit dieser Einstellung zum Leben immer unglücklicher wurde, versuchte ich es mit Psychotherapie, positivem Denken und der guten alten Willenskraft. Obwohl das alles auch manchmal hilfreich war, verfehlte jeder Versuch in gewisser Weise doch sein Ziel. Also setzte ich meine Suche nach einer Radikalkur fort, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass es so eine Methode überhaupt gab.
In letzter Not wandte ich mich an Gott. Dabei fühlte ich mich wie ein kompletter Narr. Schon wieder war ich nicht gut genug, ein Versager, unfähig etwas alleine zu verstehen. Aber ich war fest entschlossen, eine Antwort zu finden und so machte ich weiter.
Ich glaubte ja an Gott, aber ich dachte, dass Gott sich nicht um meinen Alltag kümmerte. Ich erinnerte mich aus der Sonntagsschule, dass Jesus aus Gottes Gesetz (das Mose von Gott offenbart wurde) zitierte, als er sagte, das erste und größte Gebot sei: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt." Und Jesus fügte hinzu: „Das andere aber ist dem gleich:, Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.'" Mt 22:37, 39. Genau das wollte ich ernstlich lernen.
Wie sollte ich aber fähig sein, meinen Nächsten zu lieben, wenn ich mich offenbar nicht einmal selbst lieben konnte? Hatte Gott mich denn unfähig zur Selbstachtung und gleichzeitig überheblich erschaffen? Es war mir unverständlich, dass mich ein vollkommener Schöpfer mangelhaft gemacht haben sollte.
In dieser Zeit des Suchens wurde ich durch die Lektüre eines Buches mit dem Titel Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift Von einigen langwierigen Krankheiten geheilt. Nun war ich gespannt, ob Gott auch Persönlichkeitsprobleme heilen konnte? Die Autorin des Buches, Mary Baker Eddy, zeigte, dass Gottes Gesetz auf jede Situation anwendbar ist. Sie nannte ihre Entdeckung Christian Science, also Christliche Wissenschaft, weil sie einerseits auf den Lehren Jesu Christi basiert und andererseits offensichtlich beweisbar ist. Das wollte ich für mich selbst ausprobieren.
In dem Teil von Wissenschaft und Gesundheit, der sich „Schlüssel zur Heiligen Schrift" nennt, ist ein Glossar enthalten. Dort steht unter dem Stichwort lch oder Ego Folgendes: „Es gibt nur ein Ich oder Uns, nur ein göttliches Prinzip oder Gemüt, das alles Dasein regiert; Mann und Frau, die in ihren individuellen Charakteren immer unverändert bleiben, [und] von einem Prinzip regiert werden."Wissenschaft und Gesundheit, S. 588. Als ich das las, erinnerte ich mich daran, das Gott über sich sagte: „Ich bin, der ich bin"3, als Er Mose Seine Gesetze gab. Falls Gott wirklich unendlich ist, der einzige „Ich bin", so überlegte ich, dann müssten logischerweise Gottes Kinder, wie z. B. ich, irgendwo in Gottes Plan mit einbezogen sein. Ich konnte nicht davon ausgeschlossen werden.
Aber konnte ich denn auf die Minderwertigkeitsgefühle und die Arroganz verzichten, die immer noch so sehr Teil meines eigenen, persönlichen Ichs zu sein schienen, und wahrhaft lieben — erst mich selbst und dann andere? Auf der Suche nach einer Antwort sprach ich mit einigen Christian Science Praktikern, Menschen, die ihr Leben dem Heilen durch Gebet widmen. Eine Praktikerin bemerkte eines Tages, als wir gerade über ein ganz anderes Thema sprachen: „Zu denken, man sei nicht gut genug, ist schlicht und einfach Ichbezogenheit."
Da ging mir ein Licht auf. Ich bat sie, ihre Aussage zu wiederholen. „Es ist falsch und schlicht und einfach Selbstbezogenheit, zu behaupten, man sei nicht gut genug," erläuterte sie, „denn für ein Gottesgeschöpf ist es buchstäblich unmöglich, von Gott getrennt zu sein. Und da Gott vollkommen ist, sind Sie es in Wirklichkeit auch! Das ist das Gesetz Gottes und es ist immer in Kraft."
Endlich hatte ich Gottes Gesetz für mich selbst entdeckt. Ich hielt mir meine dauerhafte Verbindung mit dem unendlichen Gott ganz klar vor Augen und erkannte, dass es in der Tat ungehörig und absurd ist, meinen eigenen Wert in Frage zu stellen oder über andere ein Urteil zu fällen. Statt unseren eigenen Wert oder den eines anderen zu bezweifeln, können wir uns durch das Wirken von Gottes Gesetz selbstsicher und geschützt fühlen. Dieses göttliche Prinzip, das zugleich grenzenlose Liebe ist, vereint und leitet uns alle.
Ich wurde nicht über Nacht umgewandelt, das muss ich gestehen. Aber allein das Bewusstsein, dass ich nun wusste, wie ich diesen schlechten Charakterzug ausmerzen konnte, war schon alles, was ich brauchte, um stetige Fortschritte zu machen.
Ein Freund von mir, den ich lange nicht gesehen hatte, äußerte sich einige Jahre später darüber, wie sehr ich mich geändert hätte. Er wies auf meine frühere, negative Lebenseinstellung hin und dass es nun schien, als ob ich sehr zufrieden und optimistisch sei. Aber nicht nur das: Mein neues Selbstwertgefühl beeinflusste auch die Art, wie ich mich kleidete, ja sogar, wie ich meinen Kopf hielt.
Diese Änderung war durch mein Verständnis und durch die Anwendung der göttlichen Wissenschaft geschehen — durch das Wirken von Gottes Gesetz in vielen kleinen Dingen meines täglichen Lebens. Das gestand ich mir voller Freude ein. Hier ein kleines, aber bezeichnendes Beispiel:
Mir fiel auf, dass ich die Angewohnheit hatte, in Gesprächen meine Partner oft zu unterbrechen. Nach und nach wurde mir klar, dass ich das deshalb tat, weil ich entweder das Gefühl hatte, ich wüsste etwas besser als andere, oder weil ich mich irgendwie herabgesetzt fühlte. Wie auch immer, allein dass mir diese Angewohnheit, Leute zu unterbrechen, bewusst wurde, zeigte mir auch, dass ich die Chance hatte damit aufzuhören und lernen konnte, wie man zuhört. Indem ich ruhig da saß und zuhörte, zeigte ich mehr Achtung — und daher mehr Liebe! — für den anderen und für mich selbst.
Zunächst brauchte es alle meine Kraft, meinen Mund zu halten. Ich gönnte mir die Erinnerung daran, dass jeder das Kind Gottes ist, dass wir alle die einzigartigen Facetten des „Ich bin" miteinander teilen. Der Gedanke an Psalm 46, Vers 11, aus der Bibel half mir dabei: „Seid stille und erkennet, dass ich Gott bin." Je mehr ich es versuchte, umso mehr genoss ich es, still zu sein. Ich entdeckte, dass ich mich entspannen konnte. Ich konnte darauf vertrauen, das Gott mir zeigen würde, wann es gut war zuzuhören und wann ich an der Reihe war zu reden. Und alle Beteiligten schienen die Reibungslosigkeit unserer Gespräche zu genießen.
Dadurch, dass ich erkannte, dass wir in Wahrheit alle von Gottes Gesetz regiert werden, weiß ich nun auch ein für allemal, dass ich gut genug bin. Das ist meine Natur, deshalb kann ich gar nicht anders sein. Falls mir einmal auffällt, dass ich mich oder andere in irgendeiner Weise verunglimpfe, dann mache ich es mir nun zur Gewohnheit, solche Gedanken über mich (oder sie) zurückzuweisen. Ich konzentriere mich wieder auf die leitende Gegenwart des einen „Ich bin, der ich bin". Dann ist es ganz einfach die Tatsache, dass jeder Einzelne von uns Gottes Bild und Gleichnis ist, in Ehren zu halten. Diese tiefe Wahrheit macht mich bescheiden und gibt mir gleichzeitig die Freiheit und Kraft den anderen zu lieben wie mich selbst.
