Es ist sehr anders als vor 100 Jahren, dieses letzte Weihnachten im zweiten Jahrtausend. Damals standen Ruhe, Besinnlichkeit und das für alle verbindliche Religiös-Philosophische im Vordergrund.
Heute sind Ich-Bezogenheit und Gewinnstreben das Wichtigste, heute jagt eine Nachricht die andere — meist sind es Schreckensbotschaften: wieder eine Stadt in Tschetschenien durch Bomben und Granaten in Trümmer gelegt, Hunderte, Tausende von Zivilisten getötet, Hunderttausende auf der Flucht, ohne Ziel, ohne Hoffnung schleppen sie sich über die vereisten Straßen.
Und auch dies: Bomben explodieren in einem Kaufhaus; ein Schüler, der im Beisein der Klassenkameraden, von denen keiner sich rührt, die Lehrerin ermordet; schließlich Korruption bis in die Kreise der politischen Elite. Gewiss, Korruption, Mörder, Diebe, Einbrecher gab es auch früher — aber es war eine andere Kriminalität, nicht so brutal und hemmungslos wie heute.
„Es gibt eine größere Befriedigung, als materielle Erfolge bieten können."
Man muss Folgendes bedenken: Die äußere Handlungsweise entspricht der inneren Haltung, das gilt für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Die geistige Verfassung ist das Entscheidende. Der Mensch braucht eine metaphysische Beziehung, um zu wissen, was man tut und was man nicht tut — hat er sie nicht, verfällt er seinem Dünkel und meint, er sei allmächtig. Ohne jene Bindung gibt es keine ethische Begrenzung der Freiheit, keine Einsicht in die Notwendigkeit, Verantwortung zu tragen.
Erst durch die metaphysische Bindung sowie die Erkenntnisse der Aufklärung, also durch Toleranz, Liberalität und Selbstbeschränkung, ist der Mensch gegen die größten Irrtümer gefeit.
Auch die Gesellschaft kann nicht ohne einen ethischen Minimalkonsens überleben: Sie braucht Normen, Spielregeln, Traditionen, die das Ganze zusammenhalten. Die aber kann man nicht per Gesetz verordnen. Ein neues geistiges Fundament kann allein durch eine Bewusstseinsänderung der Menschen entstehen.
Während der Hitler-Zeit haben wir uns nach dem Rechtsstaat gesehnt, nach Freiheit und Gerechtigkeit. Heute sind diese Vorbedingungen erfüllt, aber die Gesellschaft ist keineswegs so, wie wir sie uns wünschten und wie wir sie nach dem Ende des totalitären Regimes für selbstverständlich hielten.
Warum ist das so? State of law, Gewaltenteilung, Pluralismus, Offenheit allein genügen nicht. Es kommt darauf an, was die Bürger daraus machen. Auf ihre Gesinnung, ihr Verhalten kommt es an. Jeder Einzelne ist für den Zustand des Ganzen mitverantwortlich.
Was muss notwendigerweise geschehen? Es muss wieder eine im Metaphysischen verankerte philosophische Dimension in die politische Diskussion Eingang finden und unsere Vorstellungen von der Welt prägen. Mit anderen Worten: Die Fragen nach dem Sinn von Arbeit und Produktion, nach den Grenzen der Macht, dem Wesen des Fortschritts und dem Zuschnitt der Gesellschaft müssen neu gestellt werden. Erst die Negierung einer höheren Macht hat die totalitäre Macht des Menschen möglich gemacht.
Die ausschließliche Diesseitigkeit, der totale Positivismus, der sich nur mit der Oberfläche der Dinge beschäftigt und jede Tiefendimension vermissen lässt, kann als einzige Sinngebung auf die Dauer nicht befriedigen. Und auch für den Staat reicht die Konzentration auf wirtschaftliche Erfolge als raison d'être nicht aus.
Lasst uns Weihnachten zum Anlass nehmen, wieder der alten Botschaft eingedenk zu werden: „Höher denn alle Vernunft ..."
Denn es gibt eine tiefere Wirklichkeit als die Realität, eine höhere Weisheit, als die Schulbücher lehren, und eine größere Befriedigung, als materielle Erfolge zu bieten vermögen.
Aus der Wochenzeitschrift Die Zeit vom 22.12.1999. Nachdruck mit Genehmigung.
Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, sprieht der Herr. (Jer 29:13, 14)
