Mit Händen und Füßen hatte ich mich gewehrt meine Mutter in ein Alterszentrum zu bringen. Die Erinnerungen an frühere Besuche bei lieben Nachbarn und Bekannten in einem Altersheim waren noch viel zu lebendig. Die Menschen saßen apathisch in ihren Stühlen, starrten vor sich hin und hatten jede Lebensfreude verloren. Der Tag war streng eingeteilt vom Frühstück bis zum Nachtessen. Es schmerzte mich jedesmal sehr, diese Menschen, die bestimmt viel gearbeitet hatten, Gutes bewirkt und Kinder groß gezogen hatten, so zu sehen. Ich empfand es als sehr ungerecht und entwürdigend.
Doch Gott liebt jeden von uns und Gebet hat die Macht, Ungerechtigkeit aufzulösen. Gott hat für jeden einen würdigen Platz, weil Er uns alle liebt.
Das habe ich erfahren, als meine liebe Mutter im Alter von 95 Jahren auf einmal nicht mehr allein sein wollte. So schliefen nun meine Schwester und ich abwechslungsweise bei ihr, aber auf die Dauer war das nicht möglich. All die verschiedenen kleineren und größeren Verpflichtungen, die auf mich zukamen, konnten nicht mehr eingehalten werden, da meine Mutter sehr viel Zeit und Aufmerksamkeit verlangte. Ich habe mich gefreut, als sie ein paar schöne Ferientage in einem Christian Science Heim verbringen konnte. Leider war die Entfernung sehr groß. So beschlossen meine Schwester und ich, unsere Mutter bei meiner Schwester einzuquartieren. Aber auch wenn wir unsere Zeit aufteilten und uns abwechslungsweise um die Mutter kümmerten, konnten wir einfach nicht alles unter einen Hut bringen. Die Zeit reichte nicht für alles.
Eines Tages, als ich betete, schlug ich die Bibel auf und mein Blick fiel auf Jesaja 42:16: „Aber die Blinden will ich auf dem Wege leiten, den sie nicht wissen; ich will sie führen auf den Steigen, die sie nicht kennen. Ich will die Finsternis vor ihnen her zum Licht machen und das Höckerige zur Ebene. Das alles will ich tun und nicht davon lassen.”
Dieser Vers aus der Bibel zeigte mir, dass Gott alle unsere Schritte leitet und wir uns getrost auf Ihn verlassen können, wenn unsere Motive rein sind, auch wenn wir nicht wissen, was uns erwartet und wohin Er uns führt. Die Finsternis — für mich waren das diese dumpfen, dunklen Gedanken von Zweifel, Angst vor dem Ungewissen und eigentlich auch ein falsches Verantwortungsgefühl — wurden zu lichten Gedanken, zu freudigen und dankbaren Gedanken. Gott führt uns immer an den richtigen Platz, so dass alle gesegnet sind.
Ich fasste wieder bewusst Vertrauen in Gottes Führung und Fürsorge. In dieser Phase der Entwicklung nahm ich Kontakt auf mit dem Alters- und Pflegezentrum ganz in der Nähe. Meine Mutter, meine Schwester, meine Tante und ich gingen hin, um uns einen Eindruck zu verschaffen. Die Räume waren hell, großzügig gestaltet und freundlich. Meiner Mutter gefiel es sehr gut. Die Leiterin war nett und überraschenderweise war ein Platz frei, aber in einem Zimmer für zwei Personen. Wir hatten unsere Zweifel, ob das gut war. Aber für meine Mutter war es genau das, was sie sich wünschte. Sie weiß immer ganz genau, dass Gott sie beschützt, sie leitet und führt. Dieses Wissen hatte sie uns Kindern schon von kleinauf weitergegeben. Auch wir sind im Bewusstsein groß geworden, dass wir immer in Gottes Obhut sind.
Ich spürte, dass die Leiter dieses Heimes sich sehr bewusst sind, wie wichtig die Liebe ist, die für ihre Heimbewohner spürbar ist. Es ist nicht die perfekte Hygiene, nicht die genaue Kalorienzahl, nicht die exakt bemessene Medizin, sondern das Gefühl von Geborgenheit und Liebe, das den Menschen Gesundheit und Lebensfreude vermittelt. Auch die Würde der Bewohner zu respektieren ist eine wichtige Regel. So kann jeder selbst bestimmen, wie er seinen Tag gestalten will. Eigentlich ist es wie in einem Hotel. Es gibt ökumenische Gottesdienste, die meine Mutter gerne besucht. Die katholische Schwester hat meine Mutter besonders ins Herz geschlossen.
Es wird gekocht, gemalt und gebastelt. Alle sind sehr liebevoll und fröhlich. Und in dieser Atmosphäre hat meine Mutter wieder angefangen zu malen und zu zeichnen. Gerade heute, als ich sie besuchte, hatte sie wieder drei sehr schöne Zeichnungen von Rosen gemacht. Eine davon schenkte sie einer sehr lieben Pflegerin und die anderen werde ich kopieren, um Karten anzufertigen.
Sie hat immer sehr viel gemalt und gezeichnet, aber die letzte Zeit, als sie zu viel alleine war, hatte sie damit aufgehört. Ich bin so unendlich dankbar, dass Gott uns genau den richtigen Platz für unsere Mutter gezeigt hat, der sie und alle segnet.
Sie wird von allen sehr geschätzt dank ihres liebevollen, dankbaren und fröhlichen Wesens.
Und das Schönste von allem: Das Heim ist nah gelegen, immer offen und man ist zu jeder Zeit willkommen. Jeden Morgen und Abend kann ich bei ihr vorbeischauen und die Neuigkeiten des Tages austauschen. Manchmal telefonieren wir einer der Schwestern meiner Mutter, Freunden oder meiner Schwester, die in England wohnt. Und alle sind glücklich zu hören und zu spüren, wie wohl sich unsere Mutter fühlt. „Es ist wunderbar, hier sein zu können”, sagt sie immer wieder.
Ich bin sehr dankbar, dass meine Mutter Frische, Lieblichkeit und eine ihr eigene Güte immer zum Ausdruck bringt (siehe Wissenschaft und Gesundheit, S. 246) — auch und vielleicht gerade jetzt, in ihrem 96. Lebensjahr. Womit sie uns die Aussage „Leben ist ewig” schon ein bemerkenswertes Stück weit vorlebt.
Aufs Neue haben wir erfahren: Wenn wir einen neuen Weg einschlagen, ist Gott immer bei uns und führt jedes Seiner Kinder voran, zu neuem Licht und praktischer Gerechtigkeit.