Man kann wohl sagen, dass die Jünger völlig fassungslos waren, als ihr Meister gefangen gesetzt, gegeißelt, unbarmherzig verspottet und gekreuzigt worden war. Sie verloren – vorübergehend – aus den Augen, was er sie gelehrt hatte. Jesus hatte ihnen schon vorher angekündigt, was ihm widerfahren würde − auch dass er gekreuzigt werden und, noch wichtiger, von den Toten auferstehen würde. Hatten sie ihm nicht geglaubt? Waren sie alle dem Zweifel verfallen, den Thomas an den Tag legte, als er hörte, dass Jesus wahrhaftig aus dem Grab auferstanden war? Oder hatte Jesu Verheißung von ewigem Leben zwar wunderbar geklungen, war aber weit jenseits dessen, was die Jünger echt fassen konnten?
Ist dieses tiefinnere Verständnis vom ewigen Leben für uns zu fassen? Wie Sie sicher auch, liebe ich das Versprechen von ewigem Leben, das die Christliche Wissenschaft so eindeutig lehrt. Diese herrliche Tatsache wird in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift in vielen Varianten herausgearbeitet. Die Autorin dieses faszinierenden Buches, Mary Baker Eddy, hat das gründlich verstanden und ich habe oft über das nachgedacht, was sie so mutig in diesem Buch feststellt: „Sollten du oder ich scheinbar sterben, so wären wir nicht tot.“ (S. 164) Und ich habe mich eingehend damit befasst, was Jesus gemeint hat, als er sagte: „Wenn jemand mein Wort hält, dann wird er den Tod nicht sehen in Ewigkeit.“ (Johannes 8:51)
Sterben, aber nicht tot sein? Den Tod niemals sehen? Wunderbare Verheißungen. Doch was braucht es, sie zu verstehen? Manchmal etwas, was sich wie eine Kreuzigungserfahrung anfühlt.
Vor einigen Jahren wurde bei meinem Mann eine tödliche Krankheit diagnostiziert. (Fast 20 Jahre zuvor hatte man eine andere diagnostiziert, die, wie ich glaube, zum Großteil deshalb vollständig überwunden worden ist, weil seine Frau [ich] sich in ihrem Gebet der Situation gewachsen gezeigt und sich geweigert hatte, an Krankheit und Tod zu glauben. Aber das ist eine andere Geschichte.) Er war 30 Jahre mit einer Christlichen Wissenschaftlerin verheiratet und hatte bemerkenswerte Heilungen bei mir hautnah miterlebt. Und er hatte den heilenden Einfluss meines Verständnisses und meiner Furchtlosigkeit angesichts anderer Erkrankungen gespürt, die er über Jahre medizinisch hatte behandeln lassen. Aber er hatte sich statt für die Christliche Wissenschaft für medizinische Hilfen entschieden, um sein Leben so weit wie möglich zu verlängern. Und ich hatte ihm zugesagt, für ihn in der Weise zu sorgen, die er bestimmt hatte. Ich blieb ständig an seiner Seite, sowohl während der verschiedenen Klinikaufenthalte als auch an seinem Bett zu Hause, wo er vergebens um sein Leben kämpfte.
In diesen Monaten blieb ich glasklar in meinem Verständnis und weigerte mich unablässig zu glauben, dass Krankheit Macht oder Wirklichkeit hätte. Ich hielt an der geistigen Tatsache fest, dass Gott Krankheit oder Tod nicht kennt und auch ich sie deshalb nicht kennen kann. Und ich pflegte meinen Mann mit den Mitteln, die er wünschte. Ich fand, ich folgte damit der goldenen Regel, für ihn das zu tun, was ich mir von ihm gewünscht hätte, für mich zu tun. Ich weiß von ganzem Herzen, dass er mir zur Seite gestanden und alles für mich getan und meine Entscheidung, mich getreulich auf die Christliche Wissenschaft zu verlassen, respektiert hätte, wenn die Situation andersherum gewesen wäre. Ich konnte für ihn nicht weniger tun.
In den letzten Wochen, die ich Tag und Nacht für ihn zu Hause gesorgt habe, fragte ich mich, ob das, was ich empfand, nicht dem ähnlich war, was die Frauen am Fuß des Kreuzes empfunden haben mussten. Nicht ein Gefühl von Hilflosigkeit, sondern ein ausdauerndes, geduldiges Ausharren, dass der Christus das Geschehen verwandelt. Ich erwartete ebenfalls eine vollständige Umkehrung des tragischen menschlichen Zustandes vor meinen Augen.
An einem düsteren, trostlosen Morgen hielt ich ihn und strich ihm über die Augenbraue und sprach dann plötzlich zu ihm mit einer unglaublichen Wucht von Autorität und Macht, die ich selbst nicht kannte. Ich rief förmlich jedes Wort ganz ausdrücklich: „Nichts kann mich von etwas anderem überzeugen als vom Leben!“ Und keine 30 Sekunden später war er gegangen. Wie die Frauen am Fuß des Kreuzes habe ich geweint. Doch nur für einen Moment, denn mit derselben Plötzlichkeit, mit der diese Worte gesprochen wurden und sein letzter Atemzug getan war, hatte ich eine neue Erkenntnis darüber, was Jesus gemeint haben könnte, als er sagte, dass die, die seinen Lehren folgen, den Tod niemals sehen. Vielleicht hat er gar nicht gemeint, dass seine Nachfolger niemanden sterben sehen. Vielleicht meinte er vielmehr, dass seine Nachfolger aufhören würden, an den Tod zu glauben − selbst und gerade bei gegenteiligen Anzeichen. Ich kann zwar nicht ganz erklären, was ich in jenem Moment gespürt und erkannt habe, aber ich kann Ihnen sagen, dass ich restlos davon überzeugt war, dass es keinen Tod gibt. Dass einfach alles Leben ist. Dass mein Mann niemals wirklich in dieser Körperlichkeit gelebt und sie durch den Tod auch nicht verlassen hatte. Ich war nie stärker überzeugt von der Zusage, die ich an M. B. Eddys Feststellung so liebe: „Sollten du oder ich scheinbar sterben, so wären wir nicht tot.“
Mein Mann ist an einem Donnerstagmorgen gestorben. Ganz zeitig am Sonntagmorgen bin ich aufgewacht und sang regelrecht in meinem Herzen die Textstelle aus Wissenschaft und Gesundheit: „… am dritten Tag seines aufsteigenden Denkens …“ (S. 509).
Das bezieht sich auf Jesu Auferstehung von den Toten, nachdem er drei Tage im Grab gewesen war. Nun waren es etwa drei Tage, seitdem mein Mann verstorben war, also lauschte ich, was ich von diesen einfachen, tröstlichen, sanften Worten lernen konnte. Dann wurde mir schlagartig klar, dass dies nicht hieß, dass mein Mann buchstäblich aufgestiegen wäre (wie Jesus 40 Tage nach seiner Kreuzigung), sondern dass ganz gewiss sein Denken aufstieg. Er schritt voran und schaute nicht zurück. Er dachte nicht daran, was ihm drei Tage zuvor oder in jenen schwierigen Monaten widerfahren war. Er schaute nicht zurück, um zu sehen, ob es mir und dem Rest der Familie gut ginge. Er wusste, dass alles gut war. Er schritt voran und stieg höher im Verständnis vom Leben. Und ich wusste, das galt auch für mich. Ich schritt voran und brauchte nicht zurückzuschauen.
Das war Mitte Mai, doch für mich war es ein echter Ostermorgen. Die Freude zu wissen, dass sein Denken auf neuen Wegen aufsteigt, an denen ich nicht beteiligt war, war unbeschreiblich. An diesem Morgen wandelte sich meine Auffassung von meinen Mann ganz radikal. Ich betrachtete ihn nicht mehr als einen Sterblichen, den Ehemann, den ich geliebt hatte und der gerade gestorben war, sondern sah ihn – kannte ihn wirklich – als einen unzerstörbaren, unsterblichen, kostbaren und geliebten Ausdruck Gottes. Diese Freude und diese geistige Zuneigung, dieses tiefe Verständnis sind seitdem jeden Tag meines Lebens mit mir. Jedes Mal, wenn ich an ihn denke, empfinde ich nur die Freude zu wissen, dass er lebt. Zu wissen, dass er immer eine sich ewig entwickelnde Idee Gottes war und immer bleibt. Und ich bin ganz gewiss, dass auch er die Freude kennt, in gewissem Maße das zu entdecken, was Jesus so sehr uns allen wünschte, nämlich zu verstehen − und nie daran zu zweifeln −, dass niemand jemals wirklich stirbt.
Die Freude des Ostermorgens erwartet alle und jeden.
