Heute sehnen sich viele danach, wie Christus Jesus „von Mitleid bewegt“ zu sein, um dabei zu helfen können, den rüden Umgangston und die Zwietracht in der Welt und unter den Menschen zu heilen. Viele Menschen beten darum, die Liebe Gottes, die die Bitterkeit mit der Lieblichkeit von Christi Barmherzigkeit neutralisiert, umfassender zu verstehen und zu verkörpern.
Im Brief an die frühen Christen in Ephesus lesen wir: „Alle Bitterkeit, Grimm, Zorn, Geschrei und Verleumdung sei fern von euch, ebenso wie alle Bosheit. Seid aber untereinander freundlich, herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott in Christus euch vergeben hat“ (4:31, 32). Diese Worte ermöglichen, Wogen überhitzter Rhetorik des heutigen öffentlichen Diskurses zu glätten. Und sie laden zu individuellem und kollektivem heilenden Gebet für die Christianisierung der Menschheit ein – ein Ruf nach Barmherzigkeit und Vergebung statt nach einer wütenden Reaktion.
Ein Blick auf die Begriffe Bitterkeit, Grimm, Zorn, Geschrei, Bosheit und Verleumdung gibt uns einen guten Ansatz für unser Gebet. Bei Bitterkeit schwingt Wut und Enttäuschung über die Ungerechtigkeit des Lebens mit; Grimm beschreibt einen Zustand schwelender oder offener Wut zusammen mit einem Element der Rache; Geschrei verstärkt allen Lärm; Bosheit ist ein Anzeichen für die bewusste Intention, anderen Schaden zuzufügen. Verleumdung am Ende der Liste dieser Einstellungen und Handlungen, die fern von uns sein sollen, ist das letzte und vielleicht eins der beliebtesten Werkzeuge des Teufels (des Anklägers, Einflüsterers oder wie auch immer man ihn nennen mag), denn sie gibt dem Bösen ein Sprachrohr und eine Identität, die man anbeten oder hassen kann – ein „Götzenbild“.
Es ist besonders hilfreich zu bedenken, dass das Böse sich letztlich selbst zerstört und aufgrund seiner eigenen Unwissenheit und Nichtsheit scheitert, wenn wir uns weigern, ihm in unserem Denken eine Identität zu verleihen. Doch wenn man nicht aufpasst, kann es leicht passieren, dass man ohne nachzudenken rein emotional reagiert. In der geistigen Tatsache haben wir alle einen Vater, nämlich Gott. Abraham sagte zu seinem Neffen Lot, der ganz anders dachte als er: „Lass doch nicht Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen Hirten und deinen Hirten; denn wir sind Brüder“ (1. Mose 13:8).
Mary Baker Eddy, die Gründerin der Kirche Christi, Wissenschaftler, schrieb in ihrer Botschaft an die Mutterkirche für 1900: „Lasst keine Bitterkeit unter euch aufkommen, sondern haltet mit ganzem Herzen inbrünstig an der barmherzigen Liebe fest, die nicht nur das eigene Gute, sondern auch das des anderen sucht“ (S. 14).
Barmherzige Liebe kann Freundlichkeit und Toleranz bei der Beurteilung anderer bedeuten sowie Liebe zur Menschheit. Ein Beispiel in einem christlichen Kontext ist „Glaube, Hoffnung und Liebe“. In der deutschen Bibel wird Liebe auch oft als Barmherzigkeit bezeichnet bzw. wie im obigen Zitat als barmherzige Liebe. Barmherzige Liebe ist mehr als ein flüchtiges nettes Gefühl und erfordert einen aktiven Ausdruck, Energie und Bewegung.
Christus Jesus war die Verkörperung barmherziger Liebe. Die Liebe zu Gott war der Antrieb für alle seine Gedanken, Lehren und Handlungen, und das ist der Ausdruck der göttlichen Liebe, den wir anstreben. Und die Liebe, die er während seiner Mission zum Ausdruck brachte, heilte viele Leidenden. Ist es da verwunderlich, dass Bitterkeit und Grimm ganz oben auf der Liste der Eigenschaften des Denkens stehen, die wir ausräumen müssen? Die Lieblichkeit und Macht von Christi barmherziger Liebe ist das Gegenmittel – ganz verlässlich neutralisiert sie Bitterkeit und Grimm.
Wussten Sie, dass es eine Frau in der Bibel gibt, die sogar ihren Namen änderte, um die Ungerechtigkeit und Traurigkeit ihres eigenen Lebens zu verdeutlichen? Noomi und ihre Familie waren auf der Flucht vor einer Hungersnot von Bethlehem nach Moab gezogen. Viele Jahre später starben Noomis Mann und Söhne, und sie beschloss, in ihre Heimat zurückzukehren. Mit selbstloser Anteilnahme weigerte sich Rut (eine ihrer Schwiegertöchter), Noomi zu verlassen, und sagte: „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott“ (Rut 1:16). Rut war der Inbegriff christlicher Barmherzigkeit.
Die Reise von Moab nach Bethlehem führte durch raues, unebenes und bergiges Gelände, und die Frauen waren vermutlich viele Tage unterwegs.
Wir können viel tun, um das Band der Brüderlichkeit in der menschlichen Familie zu erneuern.
Als sie ankamen, zeigte Noomi ihre Gefühle sehr deutlich: „Und als sie nach Bethlehem hineinkamen, geriet die ganze Stadt ihretwegen in Aufregung, und sie sagten: ‚Ist das die Noomi?‘ Sie aber sagte zu ihnen: ‚Nennt mich nicht Noomi, sondern Mara; denn der Allmächtige hat mir viel Bitteres getan‘“ (Rut 1:19, 20). Mara entstammt dem hebräischen Wort mar, das bitter bedeutet. Noomi war noch nicht bereit, die heiligen Segnungen der lieblichen Barmherzigkeit und Gnade voll anzuerkennen, die Rut zum Ausdruck brachte.
Und doch bescherte Ruts mitfühlende Hilfe ihrer trauernden Schwiegermutter nicht nur Gesellschaft und eine Unterkunft, sondern neutralisierte letztlich Noomis Bitterkeit und öffnete ihr Herz für neue und frische Segnungen.
Als Rut und ihr neuer Ehemann Boas einen Sohn – Obed – bekamen, war Noomi hocherfreut! Und die Frauen Bethlehems feierten, dass die Qual ihrer Freundin in Freude umgewandelt worden war, und sagten: „Gelobt sei der Herr, der es dir zu dieser Zeit nicht an einem Löser hat fehlen lassen. Sein Name werde gerühmt in Israel. Der wird dich erquicken und dein Alter versorgen. Denn deine Schwiegertochter, die dich geliebt hat, hat ihn geboren, sie, die dir mehr wert ist als sieben Söhne“ (Rut 4:14, 15).
Rut gehört zu den wenigen Frauen, die in der Erblinie Christi Jesu im Matthäusevangelium aufgeführt sind. Ihr Leben illustriert die Macht selbstloser Barmherzigkeit, mit der sie ihre Schwiegermutter so liebevoll umgab, dass deren Bitterkeit sich in der Wärme von Gottes Liebe auflöste.
Der Apostel Paulus gibt in seinem berühmten Brief über die Liebe an die Christen in Korinth eine genaue Beschreibung von der Liebe, die Ruts Leben bewegte und den Sieg über das Böse erringt. Dort lesen wir: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe tut nicht groß, sie bläht sich nicht auf, sie benimmt sich nicht unanständig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles. Die Liebe hört niemals auf“ (1. Korinther 13:4–8).
Christi Liebe ist heute gegenwärtig und tätig. Sie zeigt sich in unseren praktischen, von Gebet erfüllten Bemühungen, im Alltag mehr Freundlichkeit, Vergebung und geduldige Nächstenliebe auszudrücken. Wenn wir eine solche Barmherzigkeit verkörpern, können wir viel tun, um das Band der Brüderlichkeit in der menschlichen Familie zu erneuern.