Es ist eine der vorherrschenden Angewohnheiten der sterblichen Vernunft, Dinge und Personen nach ihrer äußeren Erscheinung zu beurteilen. Diese Angewohnheit hat mannigfaltige Leiden und viel Ungerechtigkeit zur Folge. Da man nun selbst aus den unbedeutendsten menschlichen Erfahrungen und Beobachtungen nützliche Lehren ziehen kann, wenn man sie im Lichte der Wahrheit betrachtet, so dürste wohl auch das Folgende von Wert sein.
In einigen unsrer östlichen Staaten werden die Rehe in einer Weise gefangen, die höchst interessant ist und uns zur Lehre dienen kann. In bestimmter Höhe wird um eine Anzahl Bäume ein Draht gespannt, so daß eine Einzäunung entsteht. Sodann legt man die Lockspeise jenseits einer sich nach innen öffnenden Tür und läßt dieselbe offen. Sobald das Reh eingetreten ist, schlägt die Tür zu und bleibt fest verschlossen. Das Reh läßt sich durch den Draht täuschen und versucht weder über denselben wegzuspringen, noch unter demselben durchzuschlüpfen. Es befindet sich folglich in sicherer Gefangenschaft. Seinem angsterfüllten Bewußtsein erscheint der Draht als ein unüberwindliches Hindernis. Wüßte das Reh, daß sein Gefängnis unwirklich und die Umzäunung eine Täuschung ist, daß seine Kraft und Behendigkeit nicht abgenommen hat, so würde es die hemmende Scheinbarkeit sofort überwinden, den Zauberbann brechen und wäre mit einem Sprung in der Freiheit.
Enthält nicht obiges Beispiel eine tiefe Lehre für jedes gebannte, getäuschte und kämpfende Herz? Das Tier war seiner Freiheit nicht beraubt, glaubte aber, daß es hoffnungslos gefangen sei, weil es seinem verdunkelten Blick so erschien. Was war dieser Zauberbann anders als Unkenntnis seitens des Rehs in Bezug auf sich selbst, Unkenntnis betreffs seiner Rechte und seiner Freiheit, welche doch nach der scheinbaren Gefangennahme dieselben waren wie vorher.
Daß ein bekanntlich so scharfsinniges und schnellfüßiges Tier wie das Reh sich so unbeholfen anstellt und sich, trotz seiner Wachsamkeit, so leicht fangen läßt, ist mitleiderregend. Man wird einwenden: „Wie töricht! Konnte das Reh nicht über den Draht hinweg in die Außenwelt blicken?” Für ein Tier, daß mit Leichtigkeit über eine hohe Mauer springt, ist ein metallener Faden kein Hemmnis, viel weniger ein unüberwindliches Hindernis. Der Draht war nur darum eine Einschränkung, weil das Tier ihn als solche ansah. In Wirklichkeit hatte sich nichts verändert; seine eigne Torheit war allein an der Gefangenschaft schuld. Der blaue Himmel blickte so freundlich wie je herab; die Sonne sandte ununterbrochen ihre wärmenden Strahlen aus, und die Natur trug noch immer ihr vielfarbiges Gewand und lud lächelnd zum vollen und freudigen Genuß des Lebens und der Freiheit ein. Das durch Furcht geblendete Tier konnte nur nicht einsehen, daß seine Gefangenschaft eine Täuschung war und auf List beruhte. Es sah nur den Draht, starrte denselben fortwährend an und konnte deshalb die Freiheit nicht erkennen. Der Draht schien ihm wohl jeden Augenblick dicker zu werden, bis er ihm schließlich zur tödlichen Falle wurde.
Obgleich die Menschen auf einer weit höheren Stufe stehen, so sind sie doch mehr oder weniger von dem Netz der Täuschung umgeben, d. h. von ihren falschen Begriffen in Bezug auf Gott und Seine Schöpfung. Sind diese falschen Begriffe etwas andres als Unwissenheit? Der Glaube, daß die Leiden des Fleisches oder die materiellen Zustände — welcher Art sie auch sein mögen — wirkliche Hindernisse sein können, weil der fleischliche Sinn sie als solche ansieht, und daß sie Macht haben, die Menschen ihrer von Gott verliehenen Rechte und ihrer Freiheit zu berauben — dieser Glaube ist ebenso töricht wie der Glaube des Rehs, daß der Draht ein unüberwindliches Hindernis sei. Nicht der Draht, sondern der Glaube, daß derselbe gefangen halten könne, bildete den Feind. Der Glaube an die materiellen Gesetze der Sünde, der Krankheit und des Todes bildet die nach allen Richtungen gespannten Drähte, denen das menschliche Bewußtsein allerwärts begegnet. Wenn wir aus den Schicksal des Rehs eine Lehre ziehen und unsern geistigen Blick stets auf die wahre Schöpfung Gottes gerichtet halten, so wird uns dies zum Segen gereichen. Jesus dient uns als herrliches Vorbild; vor ihm verschwanden alle scheinbaren Hindernisse in ihr ursprüngliches Nichts. Die Einheit Gottes und des Menschen ist der Punkt, auf den wir unser Augenmerk richten müssen. In dieser Erkenntnis hat Furcht keinen Raum; man sieht ein, daß weder Gott noch der Mensch einen wirklichen Gegner hat. Die Schöpfung Gottes, einschließlich des Menschen, ist heute genau so, wie Er sie ins Dasein rief, und der Betrug des fleischlichen Sinnes kann nichts daran ändern. Unsre bewußte Freiheit und Harmonie wird nicht durch irgendwelche Änderung ewiger Tatsachen bewirkt, denn diese sind und bleiben stets dieselben. Man muß die irrigen Ansichten des fleischlichen Sinns, die Unwissenheit, welche als Furcht und Sünde zum Ausdruck kommt, erkennen und überwinden.
Das Vorhandensein der Furcht zeugt von Mangel an Vertrauen in die Allgegenwart des Geistes, Gottes; und doch „leben, weben und sind wir” in Ihm. „Er [Gott] ist zugleich der Mittelpunkt und der Umfang alles Seins” („Science and Health,“ S. 204). Es ist unsre Aufgabe, uns selbst und unsre Umgebung so zu sehen, wie sie in Wirklichkeit sind, und nicht wie der fleischliche Sinn, der Lügner aller Zeiten sie uns vorführt. Der Mensch hat von jeher das Recht gehabt, seine Freiheit, Harmonie und Gottähnlichkeit, seine wahre, ewige Identität kennen zu lernen. Für die Entdeckung und Demonstration dieser Wahrheit sind wir unsrer Führerin zu großem Dank verpflichtet.