Die Kenntnis dessen, was Wirklichkeit ist, bildet ein wichtiges Element jegliches metaphysischen Studiums. Alle religiösen und philosophischen Systeme haben versucht, die Wirklichkeit zu definieren. Wenn wir verstehen, was wirklich ist, wissen wir, was unwirklich ist und können nicht länger durch einen falschen Anspruch auf Wirklichkeit getäuscht werden. Erlösung beruht auf der Kenntnis dessen, was wirklich, und dessen, was nicht wirklich ist. Jesus verrichtete Taten, die dem Unwissenden und geistig nicht Erleuchteten wunderbar schienen. Was er tat, gründete sich auf einer Kenntnis des Unterschiedes zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen. Leben bedeutete für ihn weit mehr als für den Materialisten, dessen Auffassung von Gott eine materielle war, der für die Materie lebte und von wegen der Materie zu leben glaubte. Christus Jesus erlebte Dinge, deren seine weniger geistiggesinnten Anhänger unmöglich teilhaftig werden konnten; daher seine erhabene Abgesondertheit und ihr Unvermögen, ihn zu verstehen. Seine Heilungen wurden dadurch ermöglicht, daß er den Unterschied zwischen der Wirklichkeit und der Unwirklichkeit deutlich erkannte. Dasselbe klare, geistige Sehen heilt heutigestags, und die hohe Aufgabe der Christian Science besteht in der Wiederherstellung solch geistigen Sehens.
Wenn die Lehren der Christian Science auf die Form eines Syllogismus zurückgeführt würden, dürften sie etwa folgendermaßen lauten: Erste Prämisse: „Es gibt einen Gott.” Zweite Prämisse: „Gott ist Geist,” unendliches, individuelles Sein; der einzige Schöpfer alles dessen, was existiert. Schlußfolgerung: Alles, was existiert, alles, was wahres Sein besitzt, muß seinem Wesen nach mit Gott, Geist übereinstimmen. Es existiert nichts, was dieser großen Ersten Ursache nicht ähnlich, was derselben entgegengesetzt ist.
Es dürfte bemerkt werden, daß vom theologischen Standpunkt aus in Mrs. Eddys Prämissen eigentlich nichts Neues enthalten ist. Sie sind biblisch; sie sind dieselben Prämissen, die, wenigstens theoretisch, die Grundlage aller christlichen Glaubenslehren bilden. Der einzige Unterschied zwischen Christian Scientisten und anderen orthodoxen Christen scheint der zu sein, daß erstere nicht zögern, die Schlußfolgerungen, welche auf ihre biblischen Prämissen unvermeidlich folgen, anzunehmen, während andere Religionsbekenner die Resultate einer unerbittlichen Logik zu umgehen suchen. Es hat jemand treffend gesagt: „Wir dürfen nie vergessen, daß eine vollständige Schlußfolgerung ebenso bindend ist als die Prämisse, von der wir ausgehen, und so gewagt eine Schlußfolgerung auch erscheinen mag, wir dürfen derselben niemals aus dem Wege gehen.”
Der große Unterschied zwischen dem wahren Idealisten und dem Materialisten besteht in der Tatsache, daß letzterer glaubt, unsere materiellen Empfindungen seien wirkliche Erlebnisse, während der Idealist alles verwirft, was mit dem Wesen eines unendlichen, vollkommenen Schöpfers nicht vereinbar ist. „Unser ganzes Denken über das Leben und die Welt,” sagt ein anderer Schriftsteller, „muß mit Erfahrung beginnen, und diese Erfahrung selbst muß als wirklich angenommen werden.” Es ist ferner bemerkt worden, die weitgehendsten metaphysischen Auseinandersetzungen könnten Tatsachen nicht ändern, denn sie bleiben sich immer gleich, wie wir sie auch nennen mögen. Die Christian Scientisten sind mit letzterer Behauptung einverstanden; sofort drängt sich jedoch die Frage auf: Was berechtigt uns zu der sicheren Annahme, unsere Erfahrungen seien wahre Erfahrungen, die aus einer wahren Ursache hervorgehen, sie seien ihrem Wesen nach wirklich, d.h. in dem Sinn, daß sie ewig sind, daß sie Ausdauer oder Fortdauer besitzen? Jesaja sah eine völlig neue Reihe von Erfahrungen voraus, als er die göttliche Botschaft verkündete: „Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und neue Erde schaffen, daß man der vorigen [der gegenwärtigen Begriffe vom Himmel und von der Erde, aus denen das sterbliche Dasein besteht] nicht mehr gedenken wird, noch zu Herzen nehmen.”
Jesus sagte: „Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte vergehen nicht”; und an anderer Stelle: „Die Worte, die Ich rede, die sind Geist und sind Leben.” Der Christian Scientist glaubt nicht, daß Jesus mit diesen Worten die Zerstörung oder das Vergehen irgendwelcher Substanz, irgendwelcher Wirklichkeit gemeint habe, sondern, daß er auf jenen Wechsel im Bewußtsein Bezug nahm, durch welchen der Mensch geistiger wird und Himmel und Erde nicht als Materie, sondern als göttliche Ideen schaut, — als die geistige Offenbarwerdung des einen, unendlichen Schöpfers, der Geist ist. Paulus gab diesem Gedanken wundervollen Ausdruck als er sagte: „Die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.” Der Verfasser eines kürzlich im Christian Science Journal erschienenen Aufsatzes sagt: „Die Behauptung der Christian Science lautet nicht dahin, daß wir Gegenstände und Dinge nicht sehen, wenn wir sie zu sehen wähnen, sondern, daß diese Gegenstände von uns nicht in der Gestalt wahrgenommen werden, in der sie wirklich existieren. Nicht die Wirklichkeit des Gegenstandes erscheint uns, sondern nur dessen Sinnen-Phänomen.”
Der Materialist behauptet, das Leben bestehe aus einer Reihe von Wahrnehmungen, die uns alle durch unsere materiellen Sinne zur Kenntnis kämen. Christian Science nimmt die entgegengesetzte Stellung ein und stimmt mit den Worten des Paulus überein: „Fleischlich gesinnet sein ist der Tod, und geistig gesinnet sein ist Leben und Frieden.” Dieser Auffassung zufolge besteht das wahre Leben des Menschen nicht aus Sinneseindrücken, sondern aus geistigen Begriffen des Seins, oder aus einem vergeistigten Ausblick auf die Schöpfung und einer vergeistigten inneren Anschauung.
Christian Science leugnet nicht, daß der sterblichen Anschauung nach die Erfahrungen des menschlichen Daseins sehr wirklich erscheinen. Sie leugnet nicht, daß ein Mensch, der friert, diese Empfindung in eine Wärmeempfindung verwandeln könne, wenn er sich dem Feuer nähert, oder daß jemand, der an das Verhängnisvolle der Krankheit glaubt, die gewöhnlichen Folgen dieser Annahme erleiden werde. Was sie behauptet ist Folgendes: Wenn man einen anderen Standpunkt einnimmt, nämlich den göttlichen, so verschwinden alle diese Erfahrungen, einschließlich des kunstvollen Gewebes sich geltendmachender Gesetze, durch welche diese Erfahrungen herbeigeführt werden,— genau so, wie all die verwickelten Einzelheiten unseres Schlafzustandes aufhören zu bestehen, aufhören selbst einen Schein von Wirklichkeit zu haben, sobald wir aus jenem Zustand des Bewußtseins herauskommen, in welchem sie wirklich, natürlich und gesetzmäßig schienen. Christian Science nennt nur das „wirklich”, was geistig und ewig ist.
Sogar der Materialist, der so hartnäckig auf der Wirklichkeit unserer Sinneswahrnehmungen besteht, weiß, daß unsere materiellen Erfahrungen nicht zuverlässig und glaubwürdig sind. Wir sehen z. B. eine Luftspiegelung. Die ferne Stadt sieht sehr wirklich, sehr substantiell aus, und wir sehen sie mit denselben Augen, welche die Wirklichkeit eines Krebses, eines verkürzten Gliedes oder eines Leichnams bezeugen. Im Fall der Luftspiegelung gibt es eine Erklärung für das Sinnenzeugnis, und der materialistische Philosoph zögert nicht zuzugeben, daß das, was er sieht, keine tatsächliche Existenz besitzt,— daß es unwirklich, nicht substantiell ist; nichtsdestoweniger hat er diese Erfahrung. Es ist schwer zu begreifen, warum unsere Denker nicht den nächsten Schritt mit Christian Science tun können, warum sie das ungewisse, illusorische und unwirkliche Wesen aller materiellen Wahrnehmung nicht zugeben wollen und mit den Dingen Gottes nicht vertraut zu werden suchen.
Christian Science tritt für die Wirklichkeit von Erfahrung ein, aber nicht für die Wirklichkeit übler Erfahrung, wie Sünde, Wahnsinn, Verworfenheit, Schmerz, Krankheit und Tod. Selbst das Wesen unserer menschlichen Eindrücke beweist, daß sie nicht von Gott stammen, der zugestandenermaßen der einzige Schöpfer ist; daher unsere Schlußfolgerung bezüglich ihrer Unwirklichkeit oder illusorischen Existenz. Jesus vollbrachte seine Heilungen auf dieser Grundlage. Es wird heutigestags offenbar, daß Christian Science Heilungen aus demselben Grunde möglich sind, aus dem es Jesu möglich war zu heilen,— vermöge der Erkenntnis von Gottes Allheit und Seiner Schöpfung, und der hieraus sich ergebenden Nichtigkeit alles dessen, was Gott vermeintlich entgegengesetzt ist. Jesus bewies fortwährend, daß die Erfahrungen, die so allgemein von den Sterblichen als zum Leben gehörig betrachtet werden, irrig, unwahr und zerstörbar sind.
Es hat jemand den Ausspruch getan: „So sehr auch ein Ding in Wirklichkeit bestehen mag, so existiert es für uns sicherlich nur insoweit als wir uns von dessen Vorhandensein bewußt sind.” Jesus war sich der Vollkommenheit seines Vaters, des Weltalls und dessen Gesetze so klar bewußt, daß er den phänomenalen Charakter der Sünde, der Krankheit, ja sogar des Todes, wenn sie ihm in personifizierten Formen entgegentraten, erkannte und deren Erscheinen genau so erklärte, wie der materialistische Forscher die Luftspiegelung verstehen und erklären würde. Für Jesus hatte das als unwirklich Erkannte keine Schrecken, und er bewies durch das Heilen der Kranken und durch die Auferweckung der Toten, daß „geistlich gesinnet sein” Leben bedeutet, wie andererseits „fleischlich gesinnet sein” oder der Glauben an die Wirklichkeit krankhafter und sündhafter Erfahrungen Tod bedeutet.
Die Phänomene der materiellen Existenz scheinen den Sterblichen so gewaltig, so bestimmt und unwiderruflich, so unabänderlich, daß es ihnen nicht leicht wird zu glauben, die bestehende Ordnung der Dinge könne durch einen so ungreifbaren Prozeß wie rechtes Denken geändert werden. Und dennoch wird ein sorgfältiges Studium des Lebens Jesu im Lichte der Christian Science zeigen, daß er einen unwiderlegbaren Beweis von der Macht des Geistes gab, — der Macht, die alle materiellen, unharmonischen Zustände überwand und jedes materielle Gesetz, das mit geistigem Sein im Widerspruch stand, aufhob. Als er den Sturm stillte, bewies er, daß ein Mensch, der ein genügendes Verständnis vom geistigen Gesetz hat, atmosphärische Zustände beherrschen kann. Als er seinen Jüngern durch verschlossene Türen erschien, tat er etwas, das der allgemeinen Ansicht über die Undurchdringlichkeit der Materie widersprach. Dies sind nur einige wenige Beispiele der Überlegenheit des geistigen Bewußtseins über die Phänomene der materiellen Existenz. Auch darf nicht vergessen werden, daß andere vor Jesu Zeiten in geringerem Grade diese metaphysische Wahrheit erfaßt hatten. Es gibt Berichte von Propheten, die Eisen schwimmen ließen, unheilbare Krankheiten heilten und Tote auferweckten; deren Begriff von der Quelle ihrer Versorgung nicht auf einen Ölkrug oder eine handvoll Mehl beschränkt war, und die den kahlen Hügelabhang mit Reitern bedeckt sahen.
Christian Scientisten glauben, daß was Jesus wußte, bestimmt, genau und ordnungsmäßig war; daß seine Taten nicht Äußerungen „spasmodischer Empirik” waren, sondern gesetzmäßig und vom göttlichen Standpunkte aus sehr natürlich. Wir glauben, daß seine Kenntnis von Gott und Dessen Herrschaft über das Weltall von der herrschenden Lebensanschauung grundverschieden war; daher seine sogenannten Wunder. Wir glauben ferner, daß man sich die Kenntnis, welche Jesus besaß und in Anwendung brachte, auch heutigestags aneignen und in Anwendung bringen kann; daß der Trost, den seine tadellose Laufbahn gewährt, nicht darin liegt, daß wir zu einer sentimentalen Anhänglichkeit gelangen, sondern darin, daß er uns ein Beispiel gab, wie Sünde, Krankheit und andere unharmonische Zustände zerstört werden sollen. Er sagte: „Ich bin der Weg,” und der „Weg” ist ein Mittel zum Fortschritt, — ist das, was zum Fortschritt beiträgt. Wenn Christus „der Weg” ist, so ergibt sich daraus, daß sich die Erfahrungen des Meisters in unserem Leben wiederholen werden, wenn wir „gesinnet” sind, „wie Jesus Christus auch war.”
