Die Menschheit hat allgemein eins als unvermeidlich hingenommen, nämlich den Tod. Der Tod ist nicht nur als unabwendbar betrachtet worden, sondern es wurde ihm auch die Heiligkeit der göttlichen Verordnung zugesprochen. Der Anschauung der Menschheit zufolge ist er der notwendige Abschluß jeglicher irdischen Erfahrung, und die Christenheit hat versucht, ihn als die gütige Einrichtung eines liebenden Vaters anzusehen. Dem gegenüber stehen in scharfem Kontrast die Lehren des Neuen Testaments, — Jesu Lehren: „So jemand mein Wort wird halten, der wird den Tod nicht sehen ewiglich”; ebenfalls die Versicherung des Paulus, daß Christus dem Tod die Macht genommen habe, sowie seine fernere Erklärung: „Der letzte Feind, der aufgehoben wird, ist der Tod.” Diese Aussprüche heben nachdrücklich hervor, daß der Tod in der göttlichen Ordnung der Dinge keinen Raum hat; daß er kein freundliches, sondern ein feindliches Element ist und daß er aufgehoben werden muß.
Die Versicherung, daß der Tod keine Notwendigkeit ist, daß es für den Menschen möglich ist, zu einem solchen Grad geistigen Verständnisses zu gelangen, daß sein Austreten aus dieser irdischen Erfahrung nicht durch das Tor des Todes, sondern durch die sich öffnenden Pforten des ewigen Lebens geschehen wird, — diese Versicherung wird nicht nur durch die Aufzeichnungen über Jesus in der Heiligen Schrift unterstützt, sondern auch durch diejenigen über Elias, Enoch und wahrscheinlich Moses. In Anbetracht all der Lehren und Zeugnisse der Heiligen Schrift, verlangt nicht die Folgerichtigkeit von den Christen, daß sie aufhören die Unvermeidlichkeit des Todes zu betonen? Sollten sie nicht vielmehr die Möglichkeit hervorheben, denselben durch ein rechtes Verständnis vom Leben zu überwinden? Wenn dies nun das Werk ist, welches das christliche Ideal verlangt, so ist es jetzt an der Zeit damit zu beginnen. Dieses hohe Ideal erschien als ein phantastischer Traum, weil es keine vernunftgemäßen Mittel und Wege zu geben schien, um dessen Wahrheit und Wirklichkeit zu beweisen. Und doch waren die Mittel zur Hand, und es hat an Zeugnissen nicht gefehlt, welche andeuteten, wie diese göttliche Möglichkeit erreicht werden kann.
Wer hat nicht schon das Folgende beobachtet: Zwei Menschen beginnen ihre Laufbahn in jungen Jahren zur gleichen Zeit, unter den gleichen Umständen und Bedingungen, und sind mit den gleichen Fähigkeiten ausgerüstet. Der eine folgt hohen Idealen, der andere neigt dem Niedrigen zu. Nach Verlauf von Jahren wird dieser Unterschied in der Richtung und Neigung immer mehr bemerkbar, und beide leben schließlich in gänzlich verschiedenen Bewußtseins- und Interessensphären. Man beobachte nun das äußere Ergebnis: Der eine, der roh denkt und lebt, wird grob bis zu den Fasern seines Körpers. Die niedrige Gesinnung drückt sich in seinem Gesicht, in seiner Gestalt, mehr oder minder in jedem körperlichen Element oder jeder Bewegung aus. Andererseits bringt jener, dem gute, ehrliche, gerechte, reine, schöne Dinge Lebenszweck sind, diese Eigenschaften in seinem Körper zum Ausdruck. Bisweilen begegnen wir Männern und Frauen, die sich dem Alter mit einer Art ätherischer Schönheit nähern; der Körper ist so verfeinert worden, daß er ein durchsichtiges Medium zu sein scheint, durch welches das Licht hoher, geistiger und intellektueller Ideale schimmert. Sogar die Fasern und der Bau des Körpers sind feiner geworden, drücken immer weniger den Charakter der Materie aus und nähern sich mehr und mehr der Natur des Geistigen. Angenommen nun, dieser Prozeß setzte sich lange genug fort; angenommen, dieses Verfeinern, dieses Dematerialisieren des Körpers durch die Verwirklichung hoher Ideale nähme bis zu seiner Vollendung seinen Fortgang, wäre dann der rationellen Schlußfolgerung gemäß nicht das Schwinden dieses Körpers vorauszusehen, weil er durch die Substanz und das Bewußtsein des Geistes ersetzt wird, — genau so, wie ein Schatten schwächer wird und schließlich vor den Strahlen des Lichtes verschwindet?
Denn was ist die Substanz eines Menschen? Die Materie, aus welcher der Körper besteht, gewiß nicht. Es ist demonstrierbar und einleuchtend, daß es an dem menschlichen Körper nichts Substantielles gibt. Die Elemente, aus denen er sich zusammensetzt, ändern sich fortwährend. Einstmals lehrte die Physiologie, daß die gesamte Struktur des Körpers in einem Zeitraum von sieben Jahren erneuert werde. Neuere Forschungen führten zu der Ansicht, daß diese Dauer um vieles kürzer ist und daß der zu einer physischen Wiedererneuerung erforderliche Zeitraum wohl eher nach Monaten als nach Jahren berechnet werden müsse. Der Körper stellt eben eine sich immerwährend ändernde Folge dessen dar, was wir materielle Elemente nennen, die heute bestehen mögen, morgen aber durch andere ersetzt werden. Der Körper des Menschen, der sein siebzigstes Lebensjahr erreicht hat, weist keines von den Bestandteilen auf, aus denen er zehn oder sogar fünf Jahre zuvor zusammengesetzt war. Der Körper wurde oft wiedererneuert. Dennoch bewahrt jener Mensch eine bewußte Identität, welche sich all die Jahre hindurch erhalten hat. Er weiß, daß er derselbe Mensch ist, der er vierzig Jahre zuvor war, derselbe Mensch mit erweiterten Kenntnissen und reicherer Erfahrung. Welche Substanz hat sich also die Jahre hindurch erhalten? Was ist denn das, woraus der Mensch eigentlich besteht? Offenbar das, was denkt und Kenntnisvermögen besitzt.
Dies alles ist einleuchtend und erfordert keinen höheren Beweis als denjenigen, der von dem Standpunkte der Sinne aus anerkannt wird. Wenn es z. B. nichts in dem Körper gibt, was über einige Jahre oder sogar über einige Monate alt ist, was wird denn also alt? Das menschliche Sinnenbewußtsein allein kann es sein. Dann sind die Zustände, die den Verfall des Alten herbeiführen und mit dem Tode enden, ausschließlich Zustände des menschlichen Geistes. Ebenso sind die Krankheitszustände Zustände des menschlichen Geistes, die der Körper wiederspiegelt. Im menschlichen Geist muß also die Arbeit vollbracht werden, die mit der Krankheit, der Sünde und allem, was zum Tode führt, aufräumt.
Und wie soll dieses Werk vollbracht werden? Kann dieser menschliche Geist durch gute Vorsätze, durch edle Gedanken, durch irgend welche Anstrengung des Willens sich reinigen und erneuern, so daß er nicht sündigen, krank sein und alt werden wird? Keineswegs! All diese sündigen, leidenden, sterblichen Zustände wohnen diesem menschlichen, fleischlichen Geiste inne und erscheinen ihm natürlich und notwendig. Allein dadurch, daß dieser Geist aus sich selbst herausbelehrt, erleuchtet und mit den höheren, den wahren Idealen des göttlichen Geistes durchdrungen wird, kann er seiner selbstauferlegten Knechtschaft entrinnen und die herrliche Freiheit der Kinder Gottes finden. Diese göttliche Erleuchtung und Wiedergeburt kommt mit dem erwachenden Bewußtsein und Verständnis, daß der Mensch in Wirklichkeit das Ebenbild Gottes und somit die Wiederspiegelung des göttlichen Geistes ist. In diesem neuen Verständnis wird es offenbar, daß der materielle Körper und fleischliche Geist einen falschen Begriff vom Menschen darstellen, der dem wahren weichen muß, wie ein Schatten durch die volle Beleuchtung der Substanz, die er nachahmt, verschwindet.
In diesen Idealen ist die untrügliche Substanz der Liebe, die auf ewig bleibt, zu finden, und das Vertrauen, welches vor der Entdeckung, daß die Grundlage der zeitlichen und sinnlichen Dinge nur Treibsand ist, wankte, wird nun wieder fester. In diesem sich eröffnenden Gesichtskreis wird eine Welt des Geistes geschaut, deren Versprechungen und Möglichkeiten das menschliche Interesse für geistige Dinge, die nutzlos zu sein scheinen, unmöglich ermatten lassen können. Und mit der Entdeckung, daß Gott das Leben, daß der Mensch als Sein Ebenbild geistig und nicht materiell ist, kommt die erquickende Hoffnung, die Freiheit und Selbsttätigkeit, welche das Wesen ewiger Jugend bilden und welche das Geheimnis der Unsterblichkeit enthalten und offenbaren.
In diesem göttlich erweckten und erleuchteten Bewußtsein erkennt man den völlig vergänglichen und unwirklichen Charakter der gesamten Reihe von Lebenserfahrungen in den materiellen Sinnen, und an ihrer Stelle erscheint die strahlende Wirklichkeit einer gegenwärtigen Welt des Geistes. Die Botschaft der Bibel fordert die Sterblichen auf und ermahnt sie, sich von der Vergänglichkeit und Unwirklichkeit der Sinnenwelt zu der dauernden Fülle und Vollkommenheit der Geisteswelt zu wenden. Christus hat „das Leben und ein unvergänglich Wesen an das Licht gebracht durch das Evangelium.” Das endgültige Verständnis und die Anwendung dieser Botschaft des Evangeliums bedeutet die Zerstörung der Sünde und des Todes. Christian Science offenbart das Prinzip und die Regel des rechten Denkens, wobei ersichtlich wird, daß dies ein vernunftgemäßer Prozeß ist, der einem jeden Sterblichen dazu verhelfen wird, seine Seligkeit zu „schaffen.” Ein jeder, der den Christus anerkennt, sollte aufhören, den Tod als unabwendbar hinzustellen und an seine Unvermeidlichkeit zu glauben; er sollte vielmehr an der Möglichkeit festhalten und dieselbe betonen, daß der Tod von der Liebe verschlungen wird.
