Oft hört man die Frage: „Welche Fähigkeiten muß ein Vertreter der Christian Science haben?” Bei der Beantwortung dieser Frage dürfte es von Vorteil sein, zunächst die Bezeichnung „Christian Science” zu definieren; und wer vermöchte dies besser als Mrs. Eddy, die Entdeckerin und Begründerin der Christian Science, die bahnbrechende Vertreterin dieser Wissenschaft.
In ihrem Werke „Rudimental Divine Science“ beantwortet sie die Frage: „Wie würden Sie Christian Science definieren?” wie folgt: „Als das Gesetz Gottes, das Gesetz des Guten, welches das göttliche Prinzip und die Regel der universellen Harmonie erläutert und demonstriert.” In ihrem Werk „Science and Health“ schreibt sie: „Die Bezeichnung Science [Wissenschaft], richtig verstanden, bezieht sich allein auf die Gesetze Gottes und auf Seine Regierung des Weltalls, einschließlich des Menschen.” „Die Bezeichnung ‚Christian Science‘ hat besonders Bezug auf die Science [Wissenschaft] in ihrer Anwendbarkeit auf die Menschheit” (SS. 128, 127). Auch lesen wir in „Retrospection and Introspection“: „Ich nannte sie ‚Christian‘ [christlich] weil sie barmherzig, hilfreich und geistig ist” (S. 25). Aus all dem geht hervor, daß die zur Ausübung dieser Wissenschaft nötige Kenntnis nicht oberflächlicher Art sein kann. Sie muß das Innerste des Menschen durchdringen und schließlich die Zerstörung alles dessen herbeiführen, was nicht christlich ist, d. h. was sich nicht auf das göttliche Prinzip gründet.
In erster Linie ist Ehrlichkeit, absolute Lauterkeit des Denkens erforderlich. Eine gewisse Offenheit in den äußeren Beziehungen zu andern Leuten wird von vielen für Ehrlichkeit gehalten. Solche Leute mögen nicht bewußterweise betrügen, lügen oder fremdes Gut sich aneignen; dennoch aber täuschen sie sich selbst fortwährend hinsichtlich ihrer Beweggründe und Wünsche. Selbstsucht ist zum großen Teil die Triebfeder ihrer angeblich freundlichen und barmherzigen Handlungsweise. In einem solchen Fall täte man klug daran, die bündige Vorschrift des alten griechischen Spruches: „Erkenne dich selbst” zu beherzigen. Der Mensch muß sich auf zweierlei Art selbst erkennen. Erstens muß er fähig sein, seine Schwächen, seine Fehler und Sünden einzusehen, und zweitens muß er bis zu einem gewissen Grade das Wirkliche seines wahren Seins als den vollkommenen Ausdruck des göttlichen Denkens, als Gottes Ebenbild erkennen. Diese Selbsterkenntnis befähigt den Menschen, die menschlichen Schwächen zu überwinden und statt ihrer die Eigenschaften Gottes zum Ausdruck zu bringen.
Der wahre Beweggrund zur Ausübung der Christian Science ist der Wunsch, durch das Ausscheiden alles Bösen aus dem menschlichen Bewußtsein das Reich Gottes auf Erden gründen zu helfen. Man muß die Bibel und „Science and Health“ in verständnisvoller Weise studieren, um sich einen Begriff vom Leben zu machen, wie es vom Standpunkte des Geistes aus erscheint. Der geistige Begriff vom Leben und vom Menschen ist die Grundlage des wahren Heilens. Durch Mrs. Eddys Lehren gelangen wir zur Erkenntnis, daß die Ausübung der Christian Science ihrem Wesen nach moralisch und geistig ist, nicht kaltverstandesmäßig oder äußerlich, und eben diesen Punkt haben verschiedene Philosophen, welche die Christian Science einer Kritik unterzogen haben, nicht erfaßt. In ihrem Streben nach einer auf dem menschlichen Denken gegründeten Philosophie haben sie die Tatsache übersehen, daß es eine geistige Philosophie gibt, welche über den sterblichen Verstand hinausgeht und nur begriffen werden kann, wenn letzterer demütig wird und an Stelle seiner Beschränkungen die schrankenlosen Entfaltungen des Geistes treten läßt.
Der Vertreter muß durch seine Wirksamkeit beweisen, daß die Ausübung der Christian Science mit persönlichem Magnetismus nichts gemein hat. Er muß sich vor Furcht, Eigenwillen, Selbstsucht und Eigendünkel hüten, denn diese Charakterzüge hindern den Fortschritt. Weltlicher Erfolg und hochtrabende Reden sind ebensowenig ein Kennzeichen des wahren Christian Science Vertreters wie erheuchelte Demut und Scheinheiligkeit. Der Beweis des wahren Erfolges liegt in der Heiltätigkeit. Ist Krankheit vernichtet, Kummer gelindert und Sünde überwunden worden? Ist Friede und Glück an Stelle von Disharmonie in diese und jene Familie gebracht worden? Dies entscheidet. Der Christian Science Vertreter gewinnt vermöge der Tätigkeit des Guten und dadurch, daß er jegliches Gefühl der Selbstüberhebung im Keime erstickt, die Herrschaft über menschliche Wahnbegriffe. Es ist allumfassendes Erbarmen und große Geduld nötig, um mit kranken und der Sünde ergebenen Menschen in der rechten Weise umzugehen. Jeder Tag sollte uns einen tieferen Einblick in die geistigen Mittel und Wege gewähren. Wir dürfen nichts Geringeres erwarten und mit nichts Geringerem zufrieden sein als mit einem steten Wachstum in der Erkenntnis Gottes, das in fruchtbringender Weise im täglichen Leben zum Ausdruck kommt.
Nun mag wohl jemand fragen: „Genügen denn alle, die Vertreter der Christian Science sind, diesen Anforderungen?” Die Antwort lautet: Nein. Doch streben alle, die sich diesem großen Werke widmen, täglich diesem „vorgesteckten Ziel” zu und behalten ihr Vorbild, Christum Jesum stündlich vor Augen. Je mehr sie über das Wesen des Geistes lernen, desto weniger stützen sie sich auf das Materielle, und auf diese Weise wird der Weg weniger beschwerlich. Auch vergessen sie nicht, daß sie selbst viel zu überwinden haben und daß Freiheit nur durch stete Wachsamkeit errungen wird.
