Es ist bemerkenswert, daß die Geschichte vom verlorenen Sohn für denjenigen, der sie richtig versteht, nicht eine weitentfernte orientalische Erzählung, sondern eine naheliegende Erfahrung bedeutet. In gewissem Sinn sind wir alle verlorene Söhne, denn wir haben alle unsern höchsten Idealen oft den Rücken gekehrt, haben in dem, was uns die materiellen Sinne bieten, Befriedigung gesucht, und es ist uns sodann klar geworden — oder es wird uns klar werden —, daß Sinnlichkeit den Verlust der Glückseligkeit und den Verbrauch der Kräfte zur Folge hat. Not und Elend, das Gefühl der Scham und Selbstanklage, ja oft die tiefste Schwermut und Verzweiflung haben vielen Menschen den bitteren Kelch bis zum Rande gefüllt, wie damals dem Schweinehirten.
Gar mancher edel veranlagte Mensch empfand diese Gefühle so schwer, daß er sich ernstlich vornahm, den Frieden zu erringen, den — wie er sicher glaubt — die wahre Lebensweise mit sich bringt. Obgleich es ihm nun mit seinem Wunsch sich aufzumachen gewiß ernst war, so ist er doch nicht zu seinem Vater gegangen, denn er hat nicht verstanden, daß ohne eine Versöhnung mit der Wahrheit und Liebe die Rückkehr in die Heimat und der Empfang des Erbteils alles Guten nicht möglich ist. In seiner Unwissenheit und Verzweiflung suchte er den Weg heimwärts durch Bußübungen, durch strenges Befolgen von Formalitäten und durch tränenvolles Gebet. Seine Bemühungen waren ernst und redlich, aber dennoch verfehlte er den Weg ganz und gar, weil er die Bedeutung der Lehre des Meisters nicht verstand, dahinlautend, daß man nur durch die Erkenntnis der Wahrheit, durch das Verständnis von Gott und Seinem Gesetz die Freiheit erlangen kann.
Das beste Beispiel hiervon sehen wir im Fall derer, bei denen sich die von den materiellen Sinnen auferlegte Strafe durch physische Leiden bemerkbar macht. Sie raffen sich aus, um ihrem Elend zu entrinnen; anstatt aber zum Vater zu gehen, anstatt die Kenntnis jenes göttlichen Gesetzes zu suchen, die Jesus besaß und die ihm seine Heiltätigkeit ermöglichte, begeben sie sich in das Labyrinth der Arzneikunde. Hier ist der Ort, wo so viele Christen gestrauchelt sind, und in der Stunde, da Menschenarm nicht mehr helfen konnte, wurde es ihnen aufs neue klar, daß es ohne Gott keine Hoffnung gibt.
Die menschlichen Erfahrungen und Christian Science stimmen darin überein, daß selbst die mutigsten Anstrengungen eines Menschen stets umsonst sein werden, wenn er nicht wirklich zum Vater geht. Christus Jesus betonte dies sehr. Tatsächlich war sein ganzes Streben darauf gerichtet, allen Erdenpilgern den Weg nach Hause, den Weg zur Annahme und Verwirklichung der gesetzmäßigen und ewigen Herrschaft der Liebe zu zeigen. In gleicher Weise hat die Lehre der Christian Science stets Gott zum Mittelpunkt. Auf welchem Teil des Weges sich auch der verlorene Sohn befinden mag, was auch seine Bedürfnisse sein mögen — stets lautet der Rat: Gehe zum Vater und versöhne dich mit ihm. Göttliches Leben ist deine einzige Kraft, göttliche Wahrheit deine einzige Zuflucht. Der Christian Scientist trachtet stets danach, sich einen wahren Begriff von Gott zu bilden, und zwar, wie Mrs. Eddy sagt, „durch das Empfinden und Anwenden des Wesens und der praktischen Möglichkeiten der göttlichen Liebe” („Messages to The Mother Church“, S. 37). Dies ist der einzige Weg nach Hause, und wohl denen, die sich auf demselben befinden.
Des verlorenen Sohnes Aussicht auf Erlösung und die Möglichkeit derselben beruhte auf seiner Erkenntnis, daß er der Sohn seines liebevollen Vaters war, sowie auf seinem Beschluß, sich aufzumachen und zu ihm zu gehen. Damit war sein Problem gleichsam schon gelöst und er hatte das Recht, ein Lied anzustimmen, das seine Freude über seine bevorstehende Heimkehr ausdrückte. Dies bezieht sich ebensowohl auf uns. Gott, das unsterbliche Leben, die stets gegenwärtige Wahrheit, die ewige Liebe als unsern Vater erkannt zu haben, gibt uns jetzt und immerdar reichlich Grund zur Freude. Wir haben unsre Demonstration noch nicht vollendet und sind vielleicht noch eine weite Strecke von der Heimat entfernt; nichtsdestoweniger, wenn wir stündlich an Gott denken und in jeder Notlage uns aufmachen und zu ihm gehen, so haben wir ein Recht, Erlösung von unserm Elend zu erwarten; denn (wie wir in dem Gleichnis lesen) da der Sohn „noch ferne von dannen war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn.”
