Jahrhunderte sind vergangen, seit der unvergleichliche Lehrer in Bezug auf die seelischen Sinne zu den ungelehrigen und mit sich selbst zufriedenen Jüngern sagte: „Ihr habt Augen und sehet nicht, und habt Ohren und höret nicht”. Sprach er vom materiellen Sehen und Hören? Nein. Er wollte sagen, es schlummere in ihnen die Fähigkeit, geistig zu verstehen, nur hätten sie noch nicht die dazu erforderliche Höhe des Denkens erreicht. Er erkannte, daß ihr wahrer Ursprung und ihre wahre Existenz in Geist, Gott war, nicht in der Materie, und daß ihnen eine geistige Beobachtungsgabe zur Verfügung stand, die sie noch nicht erkannt hatten. Obgleich die Jünger für geistige Dinge mehr empfänglich waren als ihre Glaubensgenossen im allgemeinen, so waren sie doch im geistigen Sehen und Hören recht ungelehrig und unerfahren; sie machten deshalb viele Fehler und ihre Bemühungen blieben oft erfolglos.
Auf Seite 136 von „Science and Health“ sagt unsre Führerin: „Jesus fuhr geduldig fort, die Wahrheit des Seins zu lehren und zu demonstrieren.” In dieser Weise wurden die Jünger bei der Pflege ihrer geistigen Beobachtungsgabe unterstützt. Durch die Worte und Werke Jesu sowie durch ihr eignes Streben, seinen Unterweisungen zu gehorchen, traten ihre geistigen Fähigkeiten mehr in Tätigkeit. Ganz besonders wurde es ihnen klar, daß sie den geistigen Sinn nötig hatten. Nach der Auferstehung Jesu war der Irrtum endlich soweit aus ihrem Denken entfernt, daß eine noch höhere Erleuchtung, die Ausgießung des Heiligen Geistes über sie kommen konnte. Obgleich sie nun, wie unsre Führerin sagt, „den Menschen nicht mehr den materiellen Sinnen gemäß” beurteilten, so war doch ihr „Begriff von dem Leben, welches Gott ist” (Ibid., S. 47) nur sehr schwach. Sie hatten noch größere Regsamkeit und Schärfe des geistigen Sinnes nötig, und dasselbe gilt gewiß auch von den Christen unsrer Tage.
Wie können wir diesen so notwendigen seelischen Sinn pflegen? Diesbezügliche Vorschriften sind der Menschheit in all den aufeinanderfolgenden Jahrhunderten zuteil worden, und zwar immer in einer Weise, die der Fassungskraft der Zeit entsprach, und immer durch eine Person, die „der himmlischen Erscheinung nicht ungläubig” war, wie Paulus in Bezug auf sich selbst sagte. Von Abel an bis auf Moses sind Ausleger des seelischen Sinnes erstanden, die das, was sie sahen, der Menschheit erklärten. Moses brachte mit leuchtendem Antlitz die beiden Tafeln vom Berge des erhabenen Denkens, wo er mit dem unendlichen Geist (Mind) im Umgang gestanden hatte. Seine Wirksamkeit bezeichnete den Anfang eines neuen Zeitabschnittes. Gehorsam gegen das Gesetz des Geistes, oder wie man sagen könnte, das Bestreben, sich dem Wesen des Geistes anzupassen, wurde von Moses deutlich als der Weg bezeichnet, der zur Erkenntnis geistiger Wahrheit führt. Wer stets seinen höchsten Begriffen getreu bleibt, wird immer höhere Gesichtspunkte erreichen.
Als Ritualismus, Materialismus und Selbstsucht die bereits gegebene Unterweisung verdunkelt hatten, erstanden da und dort Propheten und Lehrer, welche aufs neue das Wesen und die Eigenschaften des Geistes, Gottes verkündeten und auf die zahllosen Segnungen hinwiesen, die Er in sich birgt und dem Menschengeschlecht entfaltet. Der Inhalt ihrer Unterweisungen und Ermahnungen ist in den folgenden Worten des Propheten Micha kurz und bündig ausgedrückt: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten, und Liebe üben, und demütig sein vor deinem Gott.” Wer Gerechtigkeit, Erbarmen, Liebe, Demut sowie die allgewinnende Sanftmut als Wiederspiegelung des Geistes übt, paßt sich dadurch dem Wesen des Geistes an. Ohne Ausübung erblaßt alle Unterweisung im menschlichen Bewußtsein, bis sie zuletzt ganz und gar verloren gegangen zu sein scheint.
Als die Zeit erfüllet ward, kam Jesus Christus, von welchem gesagt ist: „Es hat nie kein Mensch also geredet wie dieser Mensch.” Mit ihm beginnt ein weiterer Zeitabschnitt in der Welt der Sinneswahrnehmungen. Er hatte einen vollkommenen Einblick in das Wesen der Dinge und konnte deshalb erklären: „Der Geist ist’s, der da lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze.” Obgleich in den Jahrhunderten nach dem Abschluß seiner irdischen Laufbahn die wesentlichen Punkte seiner Lehre verloren gingen und die Demonstration der geistigen Heilung demzufolge verschwand, so war doch diese Lehre denen, welche ihr Wesen auch nur teilweise verstanden, eine Quelle der Stärke und des Mutes in den Versuchungen des Erdenlebens. In unsrer Zeit hat Mrs. Eddy den praktischen Wert, die Anwendbarkeit und die stets vorhandene Wirksamkeit dieser Lehre wieder entdeckt. Sie erkannte vermöge ihrer klaren Einsicht und ihres untrüglichen Scharfblicks das wahre Wesen des Geistes. Indem sie ihr Denken immer mehr mit dieser Erkenntnis in Übereinstimmung brachte, indem sie sich immer mehr dem Wesen Gottes anpaßte, arbeitete sie mit aufopfernder Liebe darauf hin, daß alle Menschen ihren Fuß auf diese feste Grundlage setzen möchten.
Gleichzeitig mit dem Erwachen der Erkenntnis, daß Geist Substanz ist, beginnt die Entfaltung des geistigen Sinnes. Der materielle Sinn kann nicht begreifen, wie Geist Substanz sein kann; wir haben jedoch bloß die zur Ausübung der Christian Science vorgeschriebenen Regeln zu befolgen, um den Segen zu empfangen, den ein auch nur teilweises Verständnis der Wahrheit mit sich bringt. Wenn wir mit lauteren Absichten arbeiten und beten, uns nicht entmutigen lassen, nicht zu unsern Lieblingssünden zurückkehren, sondern nach bestem Wissen Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Demut üben, so werden wir uns gewiß mit der Zeit den vollkommenen geistigen Sinn aneignen. Auf Seite 254 von „Science and Health“ sagt Mrs. Eddy: „Die unvollkommenen Sterblichen eignen sich die endgültige geistige Vollkommenheit nur langsam an; es ist jedoch schon viel getan, wenn man richtig anfängt und dann unermüdlich fortfährt, die großen Probleme des Lebens zu demonstrieren.” Möchte doch ein jeder von uns fortwährend von dem Wunsche erfüllt sein: „Rabbuni, daß ich sehend werde”— daß ich meinen wahren geistigen Sinn erhalten möge.