Es ist eines der bemerkenswertesten Zeichen der Zeit, daß gegenwärtig so viele hervorragende und anerkannt tüchtige Ärzte sich mehr und mehr von Arzneien und andern materiellen Mitteln lossagen, durch deren Anwendung sie als gesetzlich anerkannte Ärzte gelten. Diese Richtung wird in dem folgenden Redaktionsartikel aus einer neulichen Nummer des „Chicago Record-Herald“ mit folgenden Worten beleuchtet:
Besitzen die Mediziner das Vertrauen und die Achtung des Volkes nicht mehr in dem selben Maße wie früher? Dr. George F. Butler drückt sich in einem Artikel im „New York Medical Journal“ dementsprechend aus. Er erklärt, die Ärzte hätten zu viel Zeit auf das Studium von Krankheiten und zu wenig Zeit auf die Pflege der Leidenden verwandt. Bei der heutigen medizinischen Praxis, behauptet er, werde fast nichts weiter in Betracht gezogen als die physische Seite des Menschen, während doch die mentalen, moralischen und geistigen Krankheiten weit zahlreicher seien als die des physischen Körpers.
Dr. William Osler wird wohl diese Ansichten unterstützen, denn in der letzten Ausgabe des „British Medical Journal“ spricht sich dieser hervorragende Arzt offen für die Glaubensheilung aus. Er erklärt, der Glaube sei ein wichtiger Faktor in der Heilkunde. Die mentale Heilmethode könne von großem Nutzen sein, wenn sie in den richtigen Fällen sorgfältig und wissenschaftlich angewandt werde. In einer Umgebung von Gläubigen und in einer Atmosphäre des Optimismus und des Frohsinns kann das Hospital zum Wallfahrtsort, das Asyl zu einem Lourdes werden. Dr. Osler scheint sogar einen Schritt in der Richtung der Christian Science zu nehmen. Er sagt, das amerikanische Volk sei durch seine Maßlosigkeit im Gebrauch von Medizin dazu vorbereitet worden, einen „neuen Weg zum Leben”, einen „neuen Epikurismus” anzunehmen, dessen Macht „in dem Optimismus” liege, „der die Widerwärtigkeiten des täglichen Lebens leichter macht.”
Dr. Butler beklagt den seitens des Arztes so häufig zutagetretenden Mangel an Mitgefühl für den Kranken — die Geneigtheit des Arztes, den Patienten als bloßen „Fall” anzusehen. Wenn der Glaube ein wichtiges Element bei einer Kur ist, so sollte man bedenken, daß nichts den Glauben so sehr begünstigt, als das persönliche Interesse und das sympatische Entgegenkommen seitens des Arztes. Das Bewußtsein dieses Interesses wirkt auf den Patienten und hilft die nötige Verbindung herstellen, von welcher der Glaube abhängig ist. Der Mensch ist mehr als ein Körper, und der erfolgreiche Arzt muß diese Tatsache einsehen.
Die Gedankenrichtung, von welcher die Mediziner bei ihrem Suchen nach etwas weniger Greifbarem und für sie weniger Materiellem beherrscht werden, läßt jedoch den Geist, der in Christo Jesu war, den göttlichen Geist ganz unberücksichtigt, und wendet sich ausschließlich der begrenzten, menschlichen Annahme zu; oder, um es etwas faßlicher darzustellen: diese Richtung zieht bloß den menschlichen Geist in Betracht, der vermeintlich die Materie beherrscht.
Die Befürworter einer modernen medizinischen Praxis legen ferner großes Gewicht auf den Optimismus — als ob eine irrige Annahme, wenn sie nur heiter und hoffnungsvoll ist, von größerem inneren Wert wäre als eine weniger heitere und hoffnungsvolle Annahme. Niemand wird leugnen, daß der Optimismus eine viel bessere und angenehmere Annahme ist als der Pessimismus; jedoch der Optimismus, welcher an die Wirklichkeit des Übels glaubt und dasselbe bloß zu ignorieren sucht, ist gerade so wenig wissenschaftlich wie die entgegengesetzte Annahme.
Wenn der Optimismus für das Menschengeschlecht von Wert sein soll, so muß er dem Verständnis entspringen, daß alle Arten von Übel unmöglich sind und deshalb keine Macht haben. Der Glaube, welcher Krankheit für wirklich hält, obschon er zugibt, daß Gott dieselbe heilen kann und wird, ist nicht der Christian Science gemäß. Dieser Glaube beweist zwar einen Schritt vorwärts, denn er hift mit bei der Widerlegung der Theorie, daß Arzneimittel an und für sich Heilkraft hätten. Jedoch geht er der Sache nicht auf den Grund; er gibt keine wissenschaftliche Erklärung einer Heilmethode, die materielle Mittel ausschließt.
Als Mrs. Eddy vor etwa vierundvierzig Jahren das System entdeckte, welches sie später in ihrem Buche „Science and Health with Key to the Scriptures“ der Öffentlichkeit übergab, sagte sie sich völlig von dem vorherrschenden Glauben an die Wirklichkeit von Krankheit und von andern Arten des Übels los und erklärte frei heraus, daß es nur einen Gott gibt, der allwissend und allmächtig ist; daß Gott nicht der Schöpfer des Guten und des Bösen, sondern nur des Guten ist; daß Er Geist ist und daß deshalb Seine Schöpfung geistig sein muß. Die Christian Science ist also keine Methode der Glaubensheilung, wenn damit ein blinder Glaube gemeint ist, auch kann man sie nicht in dem gewöhnlichen Sinn des Wortes Optimismus nennen.
Daß die Demonstrationen der Christian Science auf die Theologen und Ärzte einen tiefen Eindruck gemacht haben, ersieht man aus ihrem Bestreben, den Materialismus aus ihren Systemen zu entfernen. Der eine wichtige Punkt, den alle erfassen müssen, liegt jedoch in den Worten: „Alles ist unendlicher Geist (Mind) und dessen unendliche Kundgebung” („Science and Health“, S. 468). Ferner müssen sie erkennen, daß dieser Geist Gott ist.