Unsre verehrte Führerin sagt: „Mein müdes Hoffen sucht sich den Tag der Glückseligkeit zu vergegenwärtigen, da alle Menschen die Wissenschaft des Christentums erkennen und ihren Nächsten lieben werden als sich selbst” („Science and Health“, S. 55). Die Christian Science lehrt uns unsre Gedanken und Handlungen analysieren, nicht im Sinne einer nutzlosen Selbstbetrachtung oder eines unerleuchteten Beschauens des eignen Ich, sondern um den Hauptbeweggrund unsrer Handlungen zu bestimmen und um festzustellen, ob er auf dem Felsen der Wahrheit oder auf dem Triebsand des sterblichen Wollens und Trachtens beruht. Ebenso nutzbringend ist es, diese Methode auf viele im täglichen Leben gebräuchliche Ausdrücke anzuwenden, um ihre geistige Bedeutung festzustellen und dadurch der Gefahr zu entgehen, sich selbst und andre durch das Wiederholen von Redensarten zu täuschen, ohne das Verständnis erlangt zu haben, welches die Wirkung falscher Vorstellungen null und nichtig macht. Das beständige Reinigen unsres Bewußtseins von Fehlern wird uns zur Pflicht, wenn wir verstehen, daß das Erfassen einer Tatsache seitens des Einzelnen das Erfassen derselben seitens der Gesamtheit erleichtert. Wenn also ein jeder getreulich in diesem Sinne arbeitet, so müssen alle dadurch gewinnen.
Hier entsteht nun die Frage: Was ist Armut? Man könnte darauf antworten, sie bestehe im Mangel nötiger oder wünschenswerter Elemente. Dieser Mangel mag bei verschiedenen Individuen in verschiedener Weise zum Ausdruck kommen, wie z. B. im Mangel an Geld, Nahrungsmitteln, Gesundheit, Kraft usw. In allen Fällen beruht der Mangel auf dem Glauben des sterblichen Sinnes an die Möglichkeit, daß es am Nötigen fehlen könnte. Wir hören täglich viel von Armut und kennen sie sowohl durch eigne Erfahrung wie durch Beobachtung. Menschliches Mitgefühl, Furcht, Sentimentalität, das unangenehme Gefühl, andre in einer mißlichen Lage zu sehen, unser Gewissen — dies alles drängt uns, die dringende Not der Armen in materieller Weise zu lindern. Es handelt sich nun darum, wie dies geschehen soll. Sicher ist, daß Geld allein dieses vielköpfige Ungeheuer der Armut nicht beschwichtigen kann. Wenige Leute sehen ein, daß, wenn wir diesem Ungeheuer Nahrung geben, es dadurch nur um so stärker wird, mehr Opfer verschlingt und sich in neuen und abstoßenderen Formen zeigt. Geldsammlungen und Wohltätigkeits-Veranstaltungen verfehlen oft ihren Zweck, weil sie von einem falschen Standpunkt ausgehen und die Pflichten des heutigen Tages bis auf morgen verschieben.
Das Manna, das die Kinder Israel speiste, war die tägliche Gabe Gottes; sie hatten immer gerade genug für einen Tag. Im zweiten Buche Mose lesen wir: „Und Mose sprach zu ihnen: Niemand lasse etwas davon über bis morgen. Aber sie gehorchten Mose nicht. Und etliche ließen davon über bis morgen; da wuchsen Würmer drinnen und ward stinkend.” Die Bestrebungen, welche den Zweck haben, die Bedürfnisse der Notleidenden zu stillen, werden nur zu oft wertlos, wie das Manna, das im voraus gesammelt worden war. Der alte Spruch: „Es ist leichter zu geben, als zu nehmen”, hieße vielleicht besser: „Es ist leichter zu geben, als zu denken.” Die meisten Christian Scientisten werden zugeben, daß eine der größten Versuchungen, die an sie herantreten, ,darin besteht, mit Geld abzuhelfen, wenn sie um Hilfe angegangen werden — sich auf ihren Geldbeutel zu verlassen, ehe sie sich an das göttliche Prinzip gewandt haben. Nur derjenige, der wahres Mitleid verspürt, wendet sich entschlossen an Gott, und vermag Kraft seines Verständnisses von Ihm als dem Quell aller Versorgung zugleich im menschlichen Bewußtsein den großen Mangel an Geistigkeit zu heben und dessen materielle Erscheinungsformen zu vernichten.
Es handelt sich also nicht nur darum, die dringenden Bedürfnisse eines Leidenden zu befriedigen. Dies muß allerdings geschehen, wie man eine Schnittwunde reinigen oder einen vor Kälte erstarrten Menschen ins warme Zimmer bringen würde. Weil jedoch die Menschen glauben, das Geld habe an und für sich Wert, so wird das menschliche Denken in dem Fallstrick der Wohltätigkeit gefangen und zu der Annahme verleitet, daß ein fundamentales geistiges Bedürfnis mit Erfolg durch eine materielle Gabe befriedigt werden könne. Natürlich glaubt kein Scientist, daß das Reinigen einer Schnittwunde dieselbe heilen oder das Erwärmen eines erstarrten Menschen ihn dauernd vor der Kälte schützen werde. Mit der Behandlung der Armut verhält es sich ebenso. Die materielle Abhilfe in Fällen der Not darf immer nur als ein Linderungsmittel oder ein Notbehelf, nie aber als das Heilmittel selbst angesehen werden. Weil eine Geldgabe gar zu leicht die Unabhängigkeit und das sittliche Gefühl des Empfängers beeinträchtigt, so muß jeder Armutsfall vorsichtig erwogen und behandelt werden. Wenn wir uns ganz und gar auf das Prinzip verlassen, so gibt uns das Mut, denn wir wissen dann, daß wir imstande sind, denen, die sich um Hilfe an uns wenden, den Weg zu zeigen; und insofern wir das Gute durch uns wirken lassen, können wir sowohl in Armuts- wie in Krankheitsfällen Hilfe bringen.
Kein Armutsfall ist dem andern vollständig gleich. Ein jeder erfordert daher eine besondere Behandlungsweise in materieller sowohl wie in mentaler Hinsicht. Aus diesem Grunde kann die Armut nie und nimmer nach der alten Methode überwunden werden, die man irrtümlicherweise Wohltätigkeit nennt. Es ist leicht, einfach Geld zu geben; durch das unüberlegte Geben von etwas überflüssigem wird aber selten etwas Gutes erreicht, weder für den Geber noch für den Empfänger, und die Christian Science zeigt uns weshalb. Geld hat weder Leben noch Intelligenz, und nur wenn dessen Besitz das Ergebnis von Selbstverleugnung, ehrlicher Arbeit und rechtem Denken ist, kann es als ein Sinnbild des Friedens, des Überflusses, als ein Ausdruck des Guten betrachtet werden. Das sorgfältige Erwägen eines Armutsfalles, das ernste Verlangen, einem Mitmenschen zu der Erkenntnis seiner Rechte als eines Kindes Gottes zu verhelfen, das liebevolle Geben alles dessen, was nötig ist — Zeit, Rat, Gebet, und in letzter Linie Geld — läutert und erhebt den Geber sowohl wie den Empfänger, und zwar in einem Grade, der weder durch milde Stiftungen noch durch Wohltätigkeitsvereine erreicht wird.
Im fünften Buche Mose lesen wir: „Wenn deiner Brüder irgendeiner arm ist in irgendeiner Stadt in deinem Lande, daß der Herr, dein Gott, dir geben wird, so sollst du dein Herz nicht verhärten, noch deine Hand zuhalten gegen deinen armen Bruder, sondern sollst sie ihm auftun, und ihm leihen, nach dem er mangelt.” Wir können gewiß nicht zu viel in Liebe geben, hingegen geben wir gar nichts, wenn wir nur zu unsrer eignen Befriedigung geben, ohne vom göttlichen Prinzip geleitet zu werden. Es dauert sehr lange, ehe der sterbliche Sinn die alten Annahmen und den Aberglauben abgestreift hat. Die moderne Idee in Bezug auf die Macht bloßen Reichtums kommt sogar bei manchen Scientisten als Verlangen nach einer Stütze in Form von besonderen Fonds, Wohltätigkeitsvereinen usw. zum Ausdruck, ungeachtet des Gebots Jesu: „Darum sorget nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigne Plage habe.” Ebenso lassen sie die so oft angeführten Worte unsrer Führerin außer acht: „Göttliche Liebe hat jedes menschliche Bedürfnis stets befriedigt und wird es stets befriedigen” („Science and Health“, S. 494).
Wir sehen also, wie leicht uns der sterbliche Sinn irre führt, wenn wir die wahre Bedeutung des Wortes Wohltätigkeit nicht mit Hilfe der Bibel und unsres Textbuches festgestellt haben. Jesus erzählt uns von einem barmherzigen Samariter, der seinem unter die Mörder gefallenen Bruder zu Hilfe kam. Er „verband ihm seine Wunden, und goß drein Öl und Wein, und hub ihn auf sein Tier, und führte ihn in die Herberge, und pflegte sein. Des andern Tages reiste er, und zog heraus zween Groschen, und gab sie dem Wirte und sprach zu ihm: Pflege sein”. Hier haben wir in der Tat ein Beispiel des vollen Verständnisses der auf Liebe beruhenden Wohltätigkeit, der liebevollen, bis ins einzelne gehenden Sorgfalt. Die Wunden werden verbunden, und Öl und Wein wird in dieselben gegossen. Wir möchten hier auf die wissenschaftliche Auslegung der Worte „Öl” und „Wein” in „Science and Health“ hinweisen (SS. 592 u. 598): „Öl. Fromme Hingabe, Wohltätigkeit, Milde.” „Wein. Inspiration; Verständnis.” Nachdem er ihn auf sein Tier gesetzt hatte, führte er ihn sanft auf den rechten Pfad nach der „Herberge”, dem Ruheort, wo er vor Gefahren sicher war und gepflegt werden konnte. Wir wissen jedoch, daß die selbstauferlegte Pflicht des Samariters keine leichte war, daß er zu Fuß gehen mußte, während ein andrer auf seinem Tier ritt, daß möglicherweise noch Räuber in der Gegend waren, die ihn hätten überfallen können, und daß er Zeit und Geld auf einen Fremden verwandte. Übrigens kam das Geld zu allerletzt in Betracht. Erst nachdem er dem Fall seine persönliche Aufmerksamkeit, Liebe und Sorgfalt gewidmet hatte, fügte er noch zwei Groschen hinzu, als einen weiteren Beweis seiner Bereitwilligkeit zu helfen. Durch das Geben der zwei Groschen allein bewies er sich nicht als sein „Nächster”.
Die ganze Armutsfrage erfordert ernstes und andachtsvolles Erwägen. Oft scheinen Habsucht und Mangel, Stolz und Armut Hand in Hand zu gehen, so daß es schwer wird zu entscheiden, wie und wo man helfen soll. Sehr oft geschieht es, daß sich arme Leute durch falschen Stolz abhalten lassen, um Hilfe zu bitten, während die Reichen oft in einer Welt der Unwirklichkeit leben und die Bedeutung des Wortes Mangel kaum kennen. Die Scheidewand zwischen diesen beiden Klassen muß die Christian Science niederreißen, so daß das Geben und Nehmen in einer Weise geschehen kann, die allen Menschen zum Wohl gereicht, in geistiger wie in zeitlicher Hinsicht. Der falsche Begriff von Reichtum sowohl wie von Armut erschwert dies vorderhand; doch jede Heilung von Mangel und jeder Sieg über Eigenliebe und Stolz bringt uns dem Ziel der Liebe und somit der wahren Brüderschaft näher.
