In „Unity of Good“ (S. 11) lesen wir: „Er (Jesus) achtete nicht auf die höhnende Bemerkung: Jene verdorrte Hand erscheint dem Auge und dem Gefühl sehr wirklich, sondern er brachte das leere Prahlen zum Schweigen und zerstörte den menschlichen Hochmut, indem er den materiellen Augenschein zerstörte.” Für den Materialisten ist der materielle Augenschein der einzige Beweis; alles andre ist für ihn nicht bestimmend, nicht überzeugend, ja nicht bestehend. Er glaubt nur, was er mit seinen eignen Augen sehen kann. Da Jesus diese Neigung erkannte, gab er sowohl den Skeptikern wie der leidenden Menschheit die Art von augenscheinlichen Beweisen, die sie verstehen konnten.
Es ist kaum anzunehmen, daß Jesus hohen Wert auf die Nägelmale an seinen Händen und auf die Speerwunde in seiner Seite legte; doch wußte er, daß Thomas sich nicht auf seiner eignen hohen geistigen Ebene bewegte, und es war daher dieser Beweis für Thomas und nicht für ihn selbst bestimmt. Noch bei andern Gelegenheiten bekundete er absichtlich seine Kenntnis von dem begrenzten menschlichen Denken. Da er wußte, daß er zu materiell gesinnten Menschen sprach, oder doch solchen, die da glaubten, einen Arzt nötig zu haben, gab er gleichzeitig mit seinen geistigen Lehren materielle Beweise — etwas, was sie sehen, fühlen oder betasten konnten. Wünschte er eine Annahme zu ändern, oder Irrtum durch die Wahrheit des Seins zu ersetzen, so vernichtete er den materiellen Augenschein, auf welchen die Annahme sich gründete, und setzte an dessen Stelle einen andern Augenschein, nämlich, ein sehendes Auge an Stelle eines blinden, eine gesunde Hand an Stelle einer verdorrten, starke Gelenke an Stelle von gebrechlichen. In all diesem folgte er dem Beispiel der alten Propheten und hat dadurch den Scientisten ein hohes Beispiel gegeben.
Der durchschnittliche Christian Scientist kommt nie in größere Verlegenheit, als wenn er versucht, seine scheinbaren Mißerfolge zu erklären. „Warum starb Frau A? Warum trägt Frau B eine Brille? Warum kann Herr C nicht besser gehen?” Der Scientist kann sich dies alles wohl erklären, aber wie soll man es einem Fragenden auseinandersetzen, der kein Scientist oder erst ein Neuling ist? Wie wunderschön wäre es, wenn wir allen unsern Aufgaben so gegenübertreten könnten, wie Jesus es tat, wenn wir alle fähig wären, so vollständig im Einklang mit den ewigen Gesetzen zu leben, daß wir in jedem Fall sofort alle Anzeichen von Verletzung oder Krankheit entfernen könnten.
Doch diese Zeit der Vollkommenheit ist noch nicht gekommen. Solange es noch solche unter uns gibt, die fortfahren die Gesetze zu übertreten, brauchen wir andre, die weiser sind und die uns zeigen können, wie töricht wir gehandelt haben und wie wir uns von den üblen Folgen befreien können. Die Hoffnung des Christian Scientisten beruht auf der unbestreitbaren Tatsache, daß er der Vollkommenheit entgegen sieht, dieselbe aber noch nicht erreicht hat; daß er in der Richtung, nach der er schaut, auch vorwärts schreitet. Bei diesem Streben kann der ausübende Vertreter nichts besseres tun, als die Methoden des großen Meisters nachahmen. Die Kranken, die materiell Gesinnten, kamen zu ihm, um sich von ihrem materiellen Augenschein des Leidens befreien zu lassen, und das Maß seiner Fähigkeit, dies zu tun, bestimmt seinen Erfolg. Wenn ein Patient von Husten geplagt wird und einen ausübenden Vertreter aufsucht, so tut er dies, um von dem Husten geheilt zu werden, da Husten nicht mit dem allgemeinen Begriff von Gesundheit im Einklang steht. Hat er eine verdorrte Hand, so möchte er sie geheilt haben, damit sie der andern gleiche; plagt ihn sein Magen, so trachtet er danach, daß derselbe gefügig, daß die blasse Farbe seiner Haut geändert, sein Auge leuchtender, sein Schritt elastischer und das Ebenmaß und die Festigkeit seiner Muskeln wieder hergestellt werde.
Was auch immer die Gedanken Jesu in Bezug auf diese Anforderungen gewesen sein mögen: er hielt es für weise, ihnen in einer großen Anzahl von Fällen zu willfahren. Wir wissen nicht, wie oft er sich weigerte zu heilen, da wir hierüber keinen Bericht haben. Mit seinem klaren Verständnis muß er die heuchlerischen und selbstsüchtigen Beweggründe hinter manchen Gesuchen erkannt und daher verweigert haben. Wenn er eine Heilung vollbrachte, ließ er es nie an Beweisen fehlen, die von allen verstanden werden konnten. Oft waren es die materiell Gesinnten, die der Heilung benötigten, und er gab denselben Beweise, die sie zu der Zeit verstehen konnten. So muß auch der ausübende Vertreter von heute verfahren, wenn er nicht durch jeden Fehlschlag in Verwirrung geraten will.
Geistige Beweise bedeuten erst dann etwas für die große Menge, wenn sie das geistige Verständnis für dieselben erlangt hat. Im sechsten Kapitel des Evangeliums Markus lesen wir: „Und er konnte allda nicht eine einige Tat tun; außer wenig Siechen legte er die Hände auf, und heilte sie. Und er verwunderte sich ihres Unglaubens.” Im dreizehnten Kapitel des Evangeliums Matthäus heißt es: „Und er tat daselbst nicht viel Zeichen, um ihres Unglaubens willen.” Ihre Unempfänglichkeit der Wahrheit gegenüber war ihm bei seiner Lehrtätigkeit ein großes Hindernis. Obige Berichte behandeln ohne Zweifel ein und dieselbe Begebenheit, und ihre Verschiedenheit zeigt den Grad des geistigen Verständnisses der beiden Verfasser an. Der ernsthafte Christian Scientist, der nach positiven Erfolgen und nicht nach Entschuldigungen sucht, wird sich um Erleuchtung mehr an den zweiten Bericht wenden. Es mag unsrer Eigenliebe schmeicheln, wenn wir glauben, daß selbst die Kundgebungen der Macht Jesu durch Opposition und Unglauben vereitelt werden konnte; doch spornt dies unsre Hoffnung nicht an. Bei Gott sind alle Dinge möglich. Für denjenigen, der auf Gottes Seite steht, verwandelt sich der Unglaube in Glauben und der Glaube in Erkenntnis, und die Erkenntnis in Macht, die nie versagt.
Nachdem uns dies klar geworden ist, sollten wir vor allen Dingen unser eignes Denken unter die Lupe nehmen, wenn uns die Frage in Verlegenheit bringt, warum wir den materiellen Augenschein der Disharmonie und Krankheit nicht beseitigt haben. Als Jesus von seinen Jüngern befragt wurde, warum sie die Teufel nicht austreiben konnten, sagte er: „Um eures Unglaubens willen”, nicht aber, um irgendwelcher äußerer widerwärtiger Umstände willen. Persönlicher Ehrgeiz, Selbstsucht, Gewinnsucht, Streben nach Macht und Führerschaft sind so trügerisch, so heimtückisch, so voll scheinheiliger Falschheit, daß ein jeder von uns sich nur durch die größte Wachsamkeit von diesen Irrtümern freihalten kann.
Physisches Heilen ist nicht der einzige, ja nicht einmal der hauptsächlichste Unterschied zwischen der Christian Science und den älteren christlichen Kirchen; aber es bildet den auffälligsten Unterschied und zieht die Massen am meisten an. Wohl ein jeder Mensch freut sich, einen kranken Freund geheilt, ein verkrüppeltes Kind hergestellt, die leidende Gattin von Husten, Fieber, schlaflosen Nächten und Tagen voll Schwäche erlöst, oder den an Rheumatismus leidenden Gatten von Schmerzen befreit zu sehen. Sie mögen die Methode nicht verstehen, mögen sie bewitzeln und verleugnen; doch den Erfolg werden die meisten mit Freude, wenn nicht mit Dankbarkeit annehmen. Wir wollen ihnen Resultate zeigen und darauf vertrauen, daß die Dankbarkeit und das Verständnis später folgen werden. Es ist dies unausbleiblich. Wenn ein Kranker sich um Hilfe an einen Christian Scientisten wendet, gibt er dadurch zu, daß er im Irrtum ist, nicht genügend Kenntnis besitzt, von Furcht erfüllt und unfähig ist, seine Erlösung von Angst und Pein auszuarbeiten. Wenn wir nun als Christian Scientisten genug Liebe zu Gott und Verständnis von Ihm besitzen, so werden wir dem Nächsten helfen können, sich von all diesem frei zu machen; wir werden seine materiellen Anzeichen von Disharmonie beseitigen und uns dadurch unnötige Erklärungen ihm und seinen Freunden gegenüber ersparen, denn derartige Erklärungen befriedigen nie und tragen nur zur Verstärkung des Zweifels bei.
Wenn es irgend etwas im Weltall gibt, das unbedingtes und furchtloses Anerkennen von Tatsachen und unbedingte Treue gegen die Wahrheit verlangt, so ist es das Heilen der Kranken durch die Erkenntnis der Wahrheit. Wir dürfen als Christian Scientisten billigerweise erwarten, daß man uns nicht nach einem Maßstab bemesse, den man nicht an andre legt; daß man nicht die Vollkommenheit von uns erwartet, welche bei keinen andern Heilern zu finden ist. Andrerseits jedoch dürfen wir uns nicht zu entschuldigen suchen, sondern müssen immer mehr nach Vollkommenheit trachten.
Ist es mein Bestreben, Vollkommenheit zu erreichen, so muß ich wissen, wo ich dieselbe finden kann, um in der rechten Richtung vorwärts schreiten zu können. Es wird mir wenig nützen, auf die erste Stufe einer Leiter zu steigen und dann mit dieser Errungenschaft zufrieden zu sein, wenn doch viele weitere Sprossen über mir sind, die ein jeder sehen kann. Solange auch nur ein einziger Kranker mich verlassen hat, ohne geheilt worden zu sein, habe ich kein Recht zu behaupten, daß ich das geistige Niveau erreicht hätte, wo Gottes Gesetz des Guten alles überwindet, was zu überwinden ist.
Sicherlich mag es in manchen Fällen nicht die Schuld des ausübenden Vertreters sein, daß eine Heilung nicht zustande gekommen ist. Dies lehrt sowohl die Bibel wie „Science and Health“. Wenn ich aber diese beiden Bücher richtig verstehe, so lehren sie, daß ein treues Befolgen ihrer Lehren den ausübenden Vertreter befähigen wird, alle dem Patienten entgegentretenden Übel zu erkennen (sei es Furcht, Haß, Neid, Ehrgeiz, Glaube an die Macht der Materie oder sonst etwas derartiges), und sie als Lügen und Täuschungen zu entlarven. Jeder falsche Glaube wird sich vor der Wahrheit zu verbergen suchen, wenn dieselbe erkannt wird, und mit dem Erscheinen der Wahrheit wird der materielle Augenschein und die Notwendigkeit einer Erklärung oder einer Entschuldigung stets schwinden.