In den Evangelien Matthäus und Lukas finden wir die Äußerung des Meisters, daß wegen der herrschenden materiellen Zustände „Ärgernis kommen” würde; zugleich aber werden wir genau angewiesen, wie wir diese Irrtümer überwinden können. Ein Blick auf die Entwicklung der Christian Science Organisation und das Wachstum dieser Bewegung zeigt, daß dann und wann Ereignisse eintreten, die unter den aktiven Mitgliedern große Aufregung verursachen und zu Reibereien führen. Oft können sich diejenigen, die eben erst ein regeres Interesse für die zu treuer Kirchenmitgliedschaft gehörenden Pflichten bekunden, wegen solcher Vorkommnisse eines gewissen Gefühles der Enttäuschung nicht erwehren. Bei ihrem Beitritt zur Christian Science Organisation haben sie vielleicht geglaubt, nun in den Hafen des Friedens eingelaufen zu sein, wo weder Streit entstehen noch menschliche Ansichten — das Ergebnis des Glaubens an viele von einander unabhängige Gemüter und Willensäußerungen — ihre Stimme erheben könnten. Sie glauben annehmen zu dürfen, daß alle älteren Mitglieder eine Stufe der inneren Entwicklung erreicht hätten, die mit den Worten einer wohlbekannten Grabschrift auf einem alten englischen Friedhof beschrieben werden könnte: „Sie brach ihre sterbliche, sündige Hülle und schlüpfte als Cherub heraus”! Sie vergessen, daß die Nichtigkeit des Glaubens an den persönlichen Sinn, an Eigenwillen und Selbstliebe nicht mit einem Male demonstriert werden kann, sondern die Belohnung stetiger, geduldiger und beharrlicher Selbstopferung ist. Die Verfasserin kann sich deutlich des Gefühles der Enttäuschung und des Bedauerns entsinnen, da sie zum erstenmal in einer Christian Science Kirche einen Mißklang bemerkte. Sie möchte daher erzählen, wie sie dieses Gefühl überwand, und hofft damit andern, denen es zur Zeit ähnlich ergehen mag, Trost zu bringen.
Eine Schülerin der Christian Science hatte an einer Geschäftsversammlung teilgenommen, die nicht ganz harmonisch verlaufen war. Am folgenden Tage erhielt sie einen Brief, in dem folgende Worte vorkamen: „Seien sie getrost; es kann nur Gutes daraus entstehen, denn wir wissen, daß Gott, das Gute, die alleinige Wirksamkeit ist.” „Das unterliegt keinem Zweifel”, dachte die junge Scientistin, „denn Gott ist das alleinige Leben und der alleinige Geist. Und doch, wie reimt sich dies mit den Beobachtungen, die ich gemacht habe.” Sie hatte eine Verabredung getroffen, legte daher den Brief bald in ihr Buch, um ihn später noch einmal durchzulesen, und wollte sich eben nach ihren Zimmern verfügen, als ihr ein kleiner Junge mit den Worten entgegenlief: „Mir geht’s viel besser, dem Willy auch. Können wir nicht auch etwas tun, wie erwachsene Leute, um zu zeigen, daß wir dankbar sind? Wir haben kein Geld; sollen wir einen Gang für Sie machen oder etwas besorgen?” „Ja, Kinder, wenn ihr wollt, könnt ihr mir helfen”, antwortete sie. „Ich möchte nämlich für morgen einen Strauß wilder Blumen haben, und ein paar grüne Zweige. Dort, auf dem Hügelabhang wachsen schöne wilde Rosen. Wollt ihr hinlaufen und mir welche bringen? Die werden uns anlachen und uns danken, nicht wahr?” Beide Knaben liefen davon, und die Scientistin begab sich an die Arbeit. In den Zwischenräumen, während Hilfesuchende kamen und gingen, mußte sie immer wieder darüber nachsinnen, wie denn Unruhe und Aufregung herrschen könne, wenn Gott die alleinige Wirksamkeit, die einzig wirkende Kraft ist, und wenn Christus, die Wahrheit, in jedem Bewußtsein wirkt.
Nach einer Weile kamen die beiden munteren Knaben staubbedeckt zurück und brachten Zweige von lieblichen Heckenrosen. „Können Sie die brauchen?” riefen sie. „Sehen Sie, wir haben nur Knospen mitgebracht; die erblühten Rosen würden morgen schon welk sein. Wenn Sie die Knospen ins Wasser stellen, gehen sie morgen alle auf. Wir werden sie jetzt in Gläser tun, damit sie im Wasser bleiben, bis Sie nach Hause gehen.” Die Knaben liefen beide hinunter, und während die Scientistin ihnen nachfolgte, vernahm sie das folgende Gespräch: „Ich habe meine Blumen schon ins Wasser gestellt, Hans.” „Wo?” „Hier ins Glas, das auf dem Tisch stand.” „Das hat keinen Zweck! Das Wasser habe ich zum Malen benützt; sieh’ doch nur den roten Bodensatz.” „Das tut nichts”, meinte der andre; „es sieht doch ganz klar aus.” „Das scheint nur so; das Wasser ist aber ganz vergiftet; die Blätter welken in demselben und die Rosen gehen niemals auf.” Er bewegte das Glas ein wenig. „Sieh’ ’mal, wie rot das Wasser wird”, fuhr er fort, „wir müssen es erst fortspülen.”
Er stellte das Glas unter den Hahn. Als frisches Wasser hineinströmte, rief der jüngere von beiden aus: „Sieh’ doch, dadurch wird’s ja viel schlimmer! Du hast das Wasser mit dem Bodensatz vermengt, und es sieht jetzt noch trüber aus.” „Es wird schon klar werden, wenn ich frisches Wasser hineinlaufen lasse”, meinte der ältere Junge. „Warum wirbeln denn die roten Farbenteile so herum?” „Die wirbeln gar nicht, die tun überhaupt nichts. Wie könnten sie auch, da sie doch nicht lebendig sind. Das frische Wasser bringt sie durcheinander, bis sie mit dem überlaufenden Wasser fortgespült werden.” „Dreh’ ’mal einen Augenblick ab”, meinte der andre; „wir wollen doch sehen, was dann wird!” „Dann bildet sich wieder ein giftiger Bodensatz, und wir müssen von vorn anfangen.” „Na, dann drehe den Hahn wieder auf.” Und der Kleine beobachtete mit großer Spannung, wie das einfließende Wasser allen Bodensatz entfernte, und nun klares, reines Wasser für die schönen Knospen das Glas füllte.
Während dieser Unterhaltung wurde der Scientistin plötzlich der Sinn des Briefes klar, und sie verstand den Vorfall des vergangenen Abends. Sie sah, daß die Blumen des reinsten Denkens in einem Bewußtsein nicht gedeihen können, wo der Bodensatz des Irrtums ungestört verblieben ist, so schön auch dieses Bewußtsein äußerlich erscheinen mag. In einer mentalen Atmosphäre, in der ein nicht erkanntes Übel sein schleichendes Wesen treibt, können die Knospen des heiligen Strebens nie zu schönen Taten erblühen. Die Scientistin sah, daß die alleinige Wirksamkeit wahrlich die Wirksamkeit des Guten ist, die Wirksamkeit des wahren Ideals, des erhöhten Christus, von dem starke Ströme der Erleuchtung ausgehen, die den verborgenen Bodensatz des Hochmuts, der Selbstgerechtigkeit und Selbstliebe aufrühren und an die Oberfläche bringen, damit sie als Irrtum erkannt werden und in ihr ursprüngliches Nichts zurücksinken mögen. Dann füllt das Verständnis der Allgegenwart des göttlichen Willens, der wahren Demut und selbstlosen Liebe, allen Raum.
Dieser Gedanke brachte die Tatsachen in der göttlichen Wissenschaft mit der menschlichen Erfahrung in Übereinstimmung, und die Scientistin sah, daß Irrtum den Irrtum nicht aufrühren oder zur Tätigkeit anregen kann, weil der Irrtum keine Wesenheit besitzt. In dem Einzelnen sowohl wie innerhalb der Gemeinde (die ja nur aus Einzelnen besteht) ist das Gut fortdauernd wirksam und wirkt aufrührend, bis kein geistiger Bodensatz oder zersetzender Gedanke mehr vorhanden ist, der der Entfaltung eines heiligen Zweckes hinderlich sein könnte. Mit Freuden erkennen wir Christum Jesum an als den Wegweiser, der da gestanden hat, wo wir stehen, und die Anfechtungen, denen wir begegnen, erduldet und überwunden hat. Johannes 12: 17 lesen wir, daß auch er einstmals für einige Augenblicke vor menschlichen Leidenschaften zurückbebte, wie wir ihnen nie gegenübergestanden haben, daß er aber seine Zaghaftigkeit überwand. Wie uns berichtet wird, betete er kurz vor seiner Kreuzigung in Gethsemane: „Vater, hilf mir aus dieser Stunde!” So beten auch wir, damit uns der schwere Kampf des Bösen gegen das Gute erspart bleibe. Für Jesum jedoch war das Licht in so bewußter Nähe, so allgegenwärtig, und die Eingebungen waren so spontan und wahr, daß die Erwiderung sogleich folgte: „Doch darum”, d. h. damit mir aus derselben geholfen werde, „bin ich in diese Stunde gekommen.” Jesus war vor diese Erfahrung gestellt worden, um mit derselben zu kämpfen, damit wir auf immer von allem Glauben an dieselbe erlöst würden. Den Aufruhr des sterblichen Geistes (vor dem er einen Augenblick zagte und der durch seine Reinheit und Geistigkeit bis auf den Grund aufgerührt wurde), überwand er in Gethsemane wie im Gerichtshof vor Pilatus, auf Golgatha wie im stummen Grab. Und der Sieg war so vollständig, daß ihm von jener Stunde an menschlicher Haß nichts mehr anhaben kannte. Heuchelei, Bosheit und Rachsucht sahen den auferstandenen Jesum nicht. Welch herrliche Verheißung und welcher Ausblick für uns, die so oft rufen: „Vater, hilf mir aus dieser Stunde!” Was müssen wir tun, um die Verheißung zu ererben? Wir müssen die heilige Inspiration der Christus-Antwort annehmen und immer wieder sprechen: „Doch darum [ auf daß auch ich auf immer erlöst werden möge], bin ich in diese Stunde kommen.” Jede Erfahrung bedeutet somit für uns einen Schritt näher der Erlösung und Überwindung, bis wir mit ihm sprechen können: „Es ist vollbracht!”
Wie oft sah unsre mutige Führerin bitteren Stunden des Kampfes, der Enttäuschung und Verfolgung entgegen! Was wäre wohl aus uns geworden, wenn sie geschwankt und den Kampf aufgegeben hätte, oder den Bodensatz des Irrtums wieder hätte sinken lassen? Gott verlieh ihr aber durch Christum die nötige Stärke. Sie ließ das reine Wasser der Wahrheit, die sie erkannt hatte, immer von neuem einströmen und betete niemals: „Vater, hilf mir aus dieser Stunde”, ohne auch die mutige Erwiderung folgen zu lassen: „Doch darum bin ich in diese Stunde kommen.” Ihre eigne Versicherung lautet: „Wenn diese Dinge keinen Segen mehr bringen, werden sie sich auch nicht mehr ereignen” („Sentinel“, 12. Juni 1909). Darum wird kein wahrer Christian Scientist, ob jung oder alt, klagen oder weinen, wenn er sieht, wie so vieles in seinem eignen Leben sowie innerhalb der Gemeinde, der er angehört, geläutert und ausgetrieben werden muß, ehe die Verwirklichung des „vollkommenen Menschen”, des Sohnes Gottes, den Jesus in der Wissenschaft erblickte (siehe „Science and Health“, S. 476), stattgefunden hat. Durch jeden derartigen Aufdeckungsprozeß wird er zu erhöhter mentaler Kraft angespornt; auch weiß er, daß der Kampf sich stetig erweitert, weil er den alles überwindenden Christus, das hohe Ideal, immer klarer erkennt. Er darf also die Waffen nicht aus der Hand legen, bis er in der Tat bewiesen hat — Worte tun’s hier nicht —, daß Gott sein Alles-in-allem ist.