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Warum alt werden?

Aus der Juli 1911-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Die alte Stadt Ravenna, mehrere Meilen vom Adriatischen Meere gelegen, wurde früher durch eine weite Strecke seichten Wassers vor den Einfällen der Feinde geschützt. Quer durch das Wasser führte eine Fahrstraße, die in Friedenszeiten durch eingetriebene Pfähle bezeichnet war. Sobald jedoch vom Meere her Gefahr drohte, wurden die Pfähle entfernt, so daß die feindlichen Schiffe die Fahrstraße nicht finden konnten.

Wir alle setzen längs den Straßen unsrer menschlichen Erfahrungen die Meilenzeiger der Ereignisse und Feste, deren alljährliche Wiederkehr den Flug der Zeit bezeichnet. Also nicht die Zeit setzt diese Pfähle, sondern wir selbst, indem wir unwissenderweise oder unbedachterweise eine Fahrstraße bezeichnen, so daß der Feind, den wir Lebensbegrenzung nennen wollen, vom Ozean menschlicher Annahmen her eindringen kann. Das Schwinden der Zeit ist eine sterbliche Annahme, die gänzlich außerhalb des Reichs des unendlichen Geistes (Mind) liegt, in welchem ein Tag ist wie tausend Jahre. Nach althergebrachter Gewohnheit sehen die Sterblichen gewissen geistigen und körperlichen Veränderungen entgegen und lassen dieselben zu. Man nimmt an, diese Veränderungen seien bis zu einem gewissen Zeitpunkte zugunsten des Menschen, da sie ihm Stärke und Entwicklung des Geistes und Körpers brächten. Nachdem aber die Zeit der Reife erreicht ist, weicht diese lobenswerte Annahme nach und nach der verderblichen Annahme, daß nun Rückschritt und Verfall stattfinden müsse.

Der Christian Scientist findet nichts in seiner Religion, was ihn berechtigt, eine solche Annahme für richtig und gesetzmäßig zu halten. Er weiß, daß der nach dem Bilde Gottes erschaffene Mensch weder zunimmt noch abnimmt, sondern stets vollkommen ist und bleiben wird. Ferner weiß er, daß dem wahren Menschen nichts fehlt, weil er ja im Besitz alles Guten ist, und daß, weil das Erbteil des Guten ewig ist, der Mensch auch nicht den geringsten Teil desselben verlieren kann, weder durch Alter, noch durch irgendeine andre Erfindung des Widersachers. Deshalb hat der mit dem durch die Christian Science erlangten Verständnis ausgerüstete Mensch keinen Grund, sich wegen der dahineilenden Jahre Sorgen zu machen. Sie sollten ihm vielmehr immer mehr Weisheit bringen. Sie können ihm nichts nehmen, was er nicht gerne aufgibt. Die Sterblichen sind in Bezug auf des Menschen Beziehung zu Gott so unwissend und gleichgültig, daß sie fortwährend Pfähle setzen, die dem Feinde das Eindringen ermöglichen. Die Geburtstage werden mit immer sorgenvollerer Miene verzeichnet, und gar mancher schaut zurück und vergleicht das, was er jetzt nicht mehr tun zu können glaubt, mit dem, was er einstmals so leicht tun konnte. In dieser und andrer Weise wird das Alter begünstigt.

Es erfordert kein besonders hohes Verständnis von der Christian Science, um einzusehen, wie töricht es ist, das Altwerden zum Gesprächsgegenstand zu machen. Wir sagen jetzt nicht mehr so leicht: „Als ich jünger war, konnte ich das und das tun”, oder: „Warte nur, bis du so alt bist wie ich, dann wirst du schon sehen!” und was andrer ähnlicher Redensarten mehr sind.

Dennoch aber haben wir eine lange Reihe von Pfählen auszuziehen, wofern wir die Fahrstraße verwischen wollen, die wir in den Tagen, da die sterblichen Annahmen uns in der Knechtschaft hielten, in unserm Bewußtsein abgesteckt hatten. Es genügt keineswegs, nicht mehr über unser Alter und die fruchtlose Vergangenheit zu reden, oder sich der Klagen über Mangel an körperlicher Behendigkeit zu enthalten. Es nützt sehr wenig, die Lippen fest verschlossen zu halten, wenn man dabei den Gedanken freien Lauf läßt. Ein Mensch, der zwar nie vom Alter und dessen Begleiterscheinungen redet, es aber versäumt, sich in seinem Denken über diese Dinge zu erheben, erinnert uns an einen Mann, der Baumeister spielen wollte und ein Haus errichtete, das keine Treppen hatte. Von außen sah das Haus ganz gut aus; als der Mann aber höher steigen wollte, wurde es ihm klar, daß er etwas absolut Notwendiges versäumt hatte.

Es gibt ein sicheres Verfahren, wie man sich über die üblen Einflüsterungen in Bezug auf das Alter erheben kann. Man muß stets des Menschen wahre Beziehung zu Gott im Gedächtnis halten. Der Psalmist erklärt, nachdem er von den veränderlichen materiellen Sinnen geredet hat: „Du aber bleibest wie du bist, und deine Jahre nehmen kein Ende”; und er fügt hinzu: „Die Kinder deiner Knechte werden bleiben, und ihr Same wird vor dir gedeihen.” Der Mensch als Gottes Widerspiegelung bringt nur gottverliehene Eigenschaften zum Ausdruck. Er besitzt nieversagende Kräfte, körperlich wie geistig. Unsre verehrte Führerin sagt: „In der Science ist der Mensch weder jung noch alt. Er ist weder geboren, noch stirbt er. ... Selbst Shakespeares Poesie schildert das Alter als einen kindischen Zustand, als Hilflosigkeit und Verfall, anstatt dem Menschen die unaufhörliche Erhabenheit und Unsterblichkeit der Entwicklung, der Macht und des Ansehens zuzuschreiben” („Science and Health“, S. 244). Der Christian Scientist erkennt es als von der größten Wichtigkeit für sein Wohlergehen, dies stets im Gedächtnis zu halten. Er behauptet aufs bestimmteste sein Recht auf ein volles Maß geistiger Kräfte, so oft sich ihm entgegengesetzte Einflüsterungen aufdrängen wollen. Trübe und unharmonische Gedanken weist er ab und gewöhnt sich ein frohes, heiteres Wesen an. Niemand hat es nötig, sich in die Kaminecke zurückzuziehen, mögen auch scheinbar noch so viele Jahre seines Lebens verstrichen sein, denn er ist stets Gottes Ebenbild. Die Jahre sollten uns mehr Weisheit, nie aber Gebrechlichkeit bringen. Nie darf man denken, es sei eine Notwendigkeit oder gar eine Tugend, sich dem allgemeinen Glauben, daß Altersschwäche unvermeidlich sei, willenlos zu unterwerfen. Man hat es in vergangenen Zeiten für durchaus natürlich und lobenswert gehalten, sich nach und nach von der gewohnten Beschäftigung zurückzuziehen, andre Kleider zu tragen, den Stock zum ständigen Begleiter zu machen und sich vom Umgang mit fröhlichen Menschen zurückzuziehen. Dadurch macht man sich geradezu zum Bundesgenossen des Alters.

Die Tatsache, daß viele der größten Geister und schärfsten Denker der Welt im hohen Alter ihr Bestes geleistet haben, sollte denen ein Verweis sein, die der Ansicht sind, daß es nach dem Erreichen einer gewissen Altersstufe mit dem Menschen bergab gehen müsse. Wenn Longfellow an seinem siebzigsten Geburtstage sein „De Senectute“ vortrug, wenn Tennyson im achzigsten Jahr das unsterbliche Gedicht, „Crossing the Bar“ schrieb, wenn wir Plato im einundachtzigsten Jahr mit der Feder in der Hand sehen, wenn Cato im selben Alter noch Griechisch lernte, wenn Humboldt mit neunzig seinen „Cosmos“ vollendete, wenn John Wesley mit zweiundachtzig inmitten seiner Tätigkeit sagen konnte: „Es sind jetzt zwölf Jahre her, seit ich ein Gefühl der Müdigkeit verspürt habe”, und wenn Oliver Wendell Holmes nach seinem achtzigsten Geburtstag in fremden Ländern Vorlesungen hielt, so sind das alles Beispiele, welche zeigen, daß die allgemeinen Annahmen der Altersbegrenzungen weder bindend noch gesetzmäßig sind. Viele andre Beispiele dieser Art könnten angeführt werden; der Schüler der Christian Science findet jedoch, daß sie alle von dem ereignisvollen Lebenslauf der hochverehrten Führerin dieser Bewegung überschattet werden, die in ihrem neunundachtzigsten Jahr mit geistigem Scharfblick und im Besitz ihrer körperlichen Kräfte die merkwürdigste religiöse Bewegung der Neuzeit überwachte und leitete. Hat nicht Christus Jesus erklärt: „Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel gekommen. Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit”?

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