Jesus stellte seine Lebensaufgabe in kurzem Abriß dar, als er am ersten Sabbat nach der Rückkehr in seinen Heimatsort Nazareth in der Synagoge folgende Stelle aus dem Propheten Jesaja vorlas: „Der Geist des Herrn ist bei mir, darum daß er mich gesalbet hat; er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, und zu verkündigen das angenehme Jahr des Herrn.” Die Erfüllung dieser Worte erklärte er für die Aufgabe, der er sich in der Kraft des ihm innewohnenden Christus widmen wollte. Dieselbe Aufgabe stellte er später der kleinen Jüngerschar, als er sie aussandte „zu predigen das Reich Gottes und zu heilen die Kranken.” Daß dieses Werk dauernd sein sollte, geht aus folgenden Worten Jesu deutlich hervor: „Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, so durch ihr Wort an mich glauben werden, auf daß sie alle eins seien, gleich wie Du, Vater, in mir und Ich in dir; daß auch sie in uns seien”.
Wäre das Werk, das die Urkirche so herrlich begonnen hatte, in derselben Weise fortgesetzt worden, so stünde es wohl heute ganz anders um die Christenheit. Des Meisters Auftrag wurde von der späteren Kirche nur teilweise befolgt; daher die konfessionellen Unterschiede und der Mangel an einheitlichem Streben, wie er in unsern Tagen so sehr beklagt wird, und dem abzuhelfen man so eifrig bestrebt ist. „Der Weg” ist durch die Entdeckung der Christlichen Wissenschaft im Jahre 1866 aufs neue geoffenbart worden. „Um eine Kirche zu gründen, die den Zweck haben soll, die Worte und Werke des Meisters in Erinnerung zu bringen und das ursprüngliche Christentum samt seinem verlorenen Element des Heilens wiederherzustellen” (Church Manual, S. 17), tat sich vor vierunddreißig Jahren eine kleine Zahl von Schülern der Christlichen Wissenschaft zusammen, und so begann die Kirche Christi, der Scientisten, still und bescheiden ihre Mission. Das Werk, welches sie zum Heil der Menschheit betrieb, hat nun einen großen Umfang erreicht. In tausenden von Fällen ist durch Heilung der Kranken und Bekehrung der Sünder bewiesen worden, daß die Wahrheit auch heute noch frei macht. So groß war Mrs. Eddys Vertrauen zu der Wirksamkeit des wiederentdeckten Prinzips, welches dem Heilungswerk des Meisters und seiner Jünger zugrunde lag, daß sie gelegentlich der Einweihung der Mutterkirche im Jahre 1894 die folgenden prophetischen Worte äußerte: „Ich sage voraus, daß, wenn die Christlichen Wissenschafter in ihrem Leben Treue gegen die Wahrheit beweisen, im zwanzigsten Jahrhundert alle Kirchen in unserm Lande und einige in fernen Ländern sich dem Verständnis von der Christlichen Wissenschaft insoweit nähern werden, daß sie die Kranken in seinem Namen heilen können. Christus wird dem Christentum seinen neuen Namen verleihen, und die Christenheit wird aus Christlichen Wissenschaftern bestehen” („Pulpit and Press“, S. 22).
Wie es sich in den Jahren, die seitdem verflossen sind, reichlich bewiesen hat, erwacht die christliche Welt, wenn auch langsam so doch sicher, zu der Erkenntnis, daß Mrs. Eddy recht hatte, als sie erklärte, die heilende und errettende Macht der Wahrheit sei auch heute noch wirksam, auch heute noch seien bei Gott alle Dinge möglich. Wenn Mrs. Eddy behauptet, die Fähigkeit zu heilen werde allen zuteil, die in der rechten Weise an Jesus Christus glauben, so findet das seine Bestätigung tagtäglich, indem durch die Ausübung der Christlichen Wissenschaft Kranke wiederhergestellt, Traurige getröstet und Sünder von allerhand bösen Gewohnheiten befreit werden. Selten aber wird der in unsern Tagen herrschende Mangel an Gehorsam gegen die Gebote des Meisters so offen zugegeben, wie in dem folgenden Auszug aus einem Aufsatz in dem amerikanischen Kirchenblatt „The Christian Work and Evangelist“:
Der Redakteur einer religiösen Zeitschrift spricht von der „Sucht nach Heilung”, warnt vor einem „allzustarken Betonen der Gemütsheilung”, die sich zum Beispiel die Emanuelsbewegung zur Aufgabe macht, erklärt, daß vor allem „der Seele” Aufmerksamkeit gebühre, und überweist „das Predigen, das Lehren und das Seelenretten” den Pastoren, das Heilen aber den Ärzten. Wenn nun das gegenwärtige rege Interesse für religiösen Beistand zur Erlangung der Gesundheit eine „Sucht” genannt werden kann, dann sind wir zu der Folgerung gezwungen, daß es ebenfalls eine „Sucht” war, als sich das Volk mit ihrem Weh und Leid um Christus drängte und er sie alle gesund machte. Selbst wenn es eine „Sucht” war, so besteht doch die Tatsache, daß er das Verlangen nach Beistand befriedigte. Er predigte allerdings, widmete aber einen großen Teil seiner Zeit dem Heilen. Er lehrte seine Nachfolger nicht mir das Predigen, sondern auch das Heilen. Nirgends steht geschrieben, daß er gesagt hätte, die eine oder die andre Pflicht, die eine oder die andre Kraft werde mit der Zeit aufhören. Unser Mangel an Fähigkeit, so zu heilen, wie er heilte, berechtigt uns ebensowenig dazu, das Heilen andern zu überlassen, wie unser Mangel an Fähigkeit, so zu predigen, wie er predigte, uns dazu berechtigen würde, diese Pflicht an andre abzutreten.
Wenn man bedenkt, daß die Menschen seit Jahrhunderten geglaubt haben, sie seien dem Willen eines allweisen Gottes gemäß dazu bestimmt, Krankheit, Mangel und Elend zu erdulden, so erscheint es nicht verwunderlich, daß sich eine „Sucht nach Heilung” entwickelt hat, und daß die durch Tausende von wohlverbürgten Heilungen bestätigten Lehren der Christlichen Wissenschaft so freudige Aufnahme finden. Nur zu lange haben die Menschen versucht, die apostolische Lehre, daß Gott Liebe ist, mit den Zuständen, wie sie sie kannten, in Einklang zu bringen. Sie haben guten Grund, sich zu freuen, weil sie in ihrer eignen Erfahrung beweisen können, daß der Vater, die unendliche Güte, „des Gerechten Gebet” erhört — weil sie in der Christlichen Wissenschaft diese Art des Gebets kennen gelernt haben. In „Pulpit and Press“ (S. 22) schreibt Mrs. Eddy: „Wenn die konfessionelle Scheidewand zwischen den Kirchen niedergerissen und das Band des Friedens durch geistiges Verständnis und Liebe befestigt ist, dann wird Einheit des Geistes herrschen, und die heilende Macht des Christus wird den Sieg davon tragen.” Es ist die Pflicht eines jeden Anhängers der Christlichen Wissenschaft, zum Wohle der Menschheit auf diese Einheit des Denkens und Handelns, deren Möglichkeit Mrs. Eddy voraussah, allen Ernstes hinzuarbeiten. Eine gewissenhafte Betätigung dieser Lehre führt die Heilung aller unharmonischen Zustände herbei.
