Die Aufgabe, ein Verständnis von unsern Beziehungen oder unsern Pflichten den Mitmenschen gegenüber zu erlangen, ist eine der schwierigsten, die der Christliche Wissenschafter zu lösen hat. So kompliziert erscheinen sie dem menschlichen Sinn, daß wir uns oft versucht fühlen, ihr ganz und gar aus dem Wege zu gehen oder die Lösung auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Jedoch ehe wir dieses Problem in Angriff genommen und bewältigt haben, können wir in unsrer Demonstration der Christlichen Wissenschaft keine großen Fortschritte machen. Wir bedürfen vor allem einer klaren und bestimmten Erkenntnis von dem Wesen Gottes, des göttlichen Prinzips, und von dem Wesen des Menschen als seiner Wiederspiegelung, denn sonst gleichen wir dem Baumeister, der einen Palast errichten will, ohne zuvor ein starkes, zweckentsprechendes Fundament zu legen. Das Gebäude mag dem menschlichen Auge schön und imposant erscheinen, wird aber beim ersten starken Sturm der Widerwärtigkeiten einstürzen, so daß nichts als ein Schutthaufen übrigbleibt.
Es ist dem Schüler von großem Nutzen, Mrs. Eddys Definition von Gott auf Seite 465 von Wissenschaft und Gesundheit aufmerksam zu lesen. Sie lautet: „Gott ist unkörperliches, göttliches, allerhabenes, unendliches Gemüt, Geist, Seele, Prinzip, Leben, Wahrheit und Liebe.” Wer diese Wörter in einem guten Lexikon nachschlägt und sich in ihre Bedeutung vertieft, tritt in ein unbegrenztes Gedankenreich ein, und seine geistige Erkenntnis erweitert sich. Die Welt ist nur zu lange von dem Glauben an einen begrenzten, körperlichen, menschengemachten Gott gefesselt gewesen, und diese Anschauung von dem unendlichen Schöpfer hat eine entsprechende begrenzte, materielle Anschauung vom Menschen zur Folge gehabt. Wir tun daher als ernste Schüler der Christlichen Wissenschaft wohl daran, unsre Arbeit mit dem demutsvollen Wunsch zu beginnen, eine bessere Erkenntnis von dem wahren Wesen Gottes zu erlangen.
Nun flüstert aber der Irrtum vielleicht diesem oder jenem zu, es sei eine Anmaßung, ja geradezu eine Blasphemie, den Unendlichen erkennen zu wollen. Und doch sagt unser großer Wegweiser Jesus Christus: „Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christ, erkennen.” Erst wenn wir in gewissem Maße Gott als unbegrenzte Liebe, als unendliche Wahrheit, als den immergegenwärtigen, alle Seine Geschöpfe erhaltenden und beschützenden Vater erkannt haben, sind wir zum zweiten Schritt bereit, nämlich zur Erkenntnis des wahren Menschen, der, wie die Bibel erklärt, das Bildnis und Gleichnis Gottes ist, und den Mrs. Eddy auf Seite 475 von Wissenschaft und Gesundheit „die Wiederspiegelung Gottes oder des Gemüts” nennt.
Paulus schreibt an die Korinther: „Nun aber spiegelt sich in uns allen des Herrn Klarheit mit aufgedecktem Angesichte, und wir werden verkläret in dasselbige Bild von einer Klarheit zu der andern, als vom Herrn, der der Geist ist”; und in Wissenschaft und Gesundheit (S. 516) erklärt Mrs. Eddy: „Wie die Wiederspiegelung von dir im Spiegel erscheint, so bist du, da du geistig bist, die Widerspiegelung Gottes. Die Substanz, das Leben, die Intelligenz, die Wahrheit und Liebe, welche die Gottheit bilden, werden von der Schöpfung der Gottheit wiedergespiegelt; wenn wir das falsche Zeugnis der körperlichen Sinne den Tatsachen der Wissenschaft unterordnen, werden wir dieses wahre Gleichnis und diese wahre Widerspiegelung überall erblicken.” Diese inspirierten Worte geben uns die Anweisung, wie wir unser Problem zu lösen haben, und dieser Anweisung gemäß müssen wir verfahren, wenn wir das Ziel erreichen wollen. Alle Eigenschaften, die in dem Wesen Gottes einbegriffen sind, gehören auch dein Menschen an, weil er Gottes Widerspiegelung ist. Deshalb ist alles, was dem Wesen Gottes widerstreitet, eine Fälschung, eine Lüge, die der Irrtum oder „das falsche Zeugnis der körperlichen Sinne” uns als ebenso wahr darstellen möchte wie die Wahrheit selbst. Es ist also ein Kampf mit dem fleischlichen Sinn nötig. Unsre Waffen sind das Gebet „ohne Unterlaß” und das standhafte Verneinen alles dessen, was der Wahrheit des Seins widerstreitet. Nachdem wir einigermaßen das Wesen Gottes und des Menschen erkannt haben, müssen wir diese Erkenntnis im täglichen Umgang mit den Mitmenschen in die Tat umsetzen.
Die Christliche Wissenschaft ist eine äußerst praktische Religion. Gleich von Anfang an kann der Schüler die gewonnenen Kenntnisse anwenden. Tut er dies gewissenhaft, so erhält er jeden Tag neue Beweise der heilenden und erneuernden Kraft, die die wahre Erkenntnis Gottes und des Menschen dem Bewußtsein bringt. Eine der ersten und zugleich schwierigsten Aufgaben, die wir zu lernen haben, besteht darin, daß wir ein klares Verständnis von der Allumfassenheit der Liebe erlangen. Der Einfluß unsrer Erziehung und unsrer Umgebung hat dazu beigetragen, daß wir unsre Liebe auf einige wenige Menschen beschränken. Das Familien- und Nationalgefühl mag zwar dem menschlichen Sinn sehr lobenswert erscheinen, enthält aber immer ein Element der Trennung. Es muß dem höheren Verständnis weichen, daß die Menschheit eine Familie, eine Nation, eine Brüderschaft bildet.
Nun gibt es aber manche, die den Gedanken von einer allumfassenden Familie so verstehen, als werde die Auflösung alter Bande der Familie und der Freundschaft gefordert. Dem ist aber nicht so. Die Christliche Wissenschaft verlangt nicht, daß wir irgend etwas aufgeben, was gut ist. Nicht ein Tüttelchen von unsern reinen und tiefgefühlten Zuneigungen nimmt sie uns, sondern sie ermahnt uns, unsre Liebe nicht länger auf einige wenige Menschen zu beschränken, sondern sie zu erweitern, bis sie die ganze Menschheit umfaßt. Wir lernen dann besser verstehen, was mit universaler Liebe gemeint ist. Unsre Liebe für die Wenigen wird tiefer und freudvoller, weil das Gefühl der Beschränkung, welches seinen Ursprung in der Selbstsucht und Sinnlichkeit hat, vernichtet ist. Bei unserm Streben, diese höhere Art der Liebe zu erreichen, müssen wir jedoch auf der Hut sein, damit wir die schlichten, alltäglichen Pflichten, die der Familie gebührenden Äußerungen der Zuneigung nicht versäumen. Unsre Liebe muß praktischer Art sein, sonst ist sie keine Liebe, sondern nur Sentimentalität. Wir müssen bestrebt sein, im eignen Heim universale Liebe zum Ausdruck zu bringen. Sodann müssen wir sie ins Berufsleben mitnehmen und allen mitteilen, mit denen wir in Berührung kommen, seien es hochgestellte Personen oder bescheidene Arbeitsleute. Eine solche Liebe findet ihren Ausdruck in einer nie versagenden Höflichkeit und Freundlichkeit, in einem rücksichtsvollen Benehmen gegen alle Mitmenschen.
Die Erkenntnis, daß der Mensch die Wiederspiegelung Gottes ist, befähigt uns, alle Irrtümer von der Persönlichkeit zu trennen. Wir messen dann das Übel nicht mehr einer Person bei, streiten nicht mehr gegen Menschen, sondern unser Kampf gilt dem Irrtum. Nicht gegen den Mitbruder richtet sich unsre Abneigung, sondern gegen das Übel; nicht ihn suchen wir zu vernichten, sondern den Irrtum. Wir hegen keinen andern Wunsch, als den wahren Menschen so deutlich zu sehen, daß wir dadurch denen, die in den Banden der Krankheit, des Kummers und der Sünde liegen, Heilung und Trost bringen können. Solange wir über das wahre Wesen des Menschen nicht im klaren sind, können wir nicht auf einer wahren metaphysischen Basis heilen.
Diese allgemeine Liebe muß auch in unsrer Beziehung zu andern Nationen zum Ausdruck kommen. Nur die Erkenntnis des einen unendlichen Gottes, des Guten, kann wahre Einigkeit zwischen Menschen und Völkern herstellen und uns eine Grundlage geben, von der aus wir die schwierigen sozialen und politischen Probleme ausarbeiten können. Nie werden wir imstande sein, diese Probleme zu lösen, solange wir einen irrigen Begriff von Gott und Seiner Schöpfung hegen. Die Christlichen Wissenschafter, die ernstlich bestrebt sind, ihre höhere Erkenntnis von dem Wesen Gottes und des Menschen, wie es in ihrem Lehrbuch, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, dargelegt ist, zur Ausübung zu bringen, nehmen teil an der größten sozialen und religiösen Reformbewegung, die die Welt je gesehen hat. Sie bringen dem menschlichen Bewußtsein die wahre Bedeutung der Engelsbotschaft: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.”