Es gibt keinen Ausdruck der mehr Gutes oder Schlechtes hervorruft, als das Wort Gesinnungstreue. Jede der dunkelsten Phasen der Geschichte ist in irgendeinem Punkt durch den Beweis edler Hingebung zu einem hohen Ideal erleuchtet worden, während selbst die schönsten geschichtlichen Berichte menschlicher Taten, durch abergläubiges Festhalten an einem niedrigen, unedlen Gefühl der Verpflichtung, getrübt wurden. Das Wort bringt uns sofort das Heer der Helden ins Gedächtnis, die, alles andere als Verlust ansehend, lieber jedem Schrecken gegenüberstanden, jede Schmach auf sich nahmen und jedes Leiden ertrugen, als in irgendeiner Weise ihrem Begriff der Tugend, der Männlichkeit oder des Rechtes untreu zu sein. Und doch, was für unsägliche Vergehen und Verbrechen wurden, infolge dieser individuellen Treue zu irgendeinem Glaubensbekenntnis, irgendeiner Anforderung von Rang oder Klasse oder auf Befehl eines ehrgeizigen und despotischen Herrschers, begangen! In der Chronik menschlicher Ereignisse ist alles Gute und beinahe alles was schlecht ist, der Ausdruck von Gesinnungstreue, und die heutige Welt hat das tiefe, geistige, einsichtsvolle Nachdenken, welches das Verständnis der Christian Science mit sich bringt, sehr nötig, um die wahre Bedeutung des Wortes festzustellen.
Wenn man darüber nachdenkt, sieht man sofort welch große Rolle der Sinn der „Treue gegen seine Eigenen“ überall um uns im menschlichen Leben spielt. Wer könnte je von all den spontanen Freundschaften und Freuden, liebevollen Opfern und den Beweisen treuer liebevoller Familienhingebung erzählen, und ihren verschönernden und veredelnden Einfluß auf jeden unserer Tage beschreiben? Die Mehrheit würde sofort sagen, daß ohne dieses Geben und Empfangen das Leben nicht wert wäre gelebt zu werden. Sie ist das schöpfende Band, die eigentliche Substanz des wahren Heims. Ein glückliches Heim aber erzeugt Zufriedenheit, eine feste Nation und alles was gut ist, ja, man kann sagen ermöglicht Zivilisation.
Und wer könnte die Ungerechtigkeiten und das Böse ermessen, die Familienfehden,— einem falschen Sinn von Verwandschaftstreue,— entsprungen sind? Welch unaussprechliche Prüfungen haben Eltern, oft ganz ohne Klage, ertragen, nur weil der Missetäter ein Kind war! Umgekehrt, wer kann sich die Leiden vorstellen, welche unzählige Kinder durch einen anerzogenen Pflicht- und Gehorsamssinn erdulden, unter selbstsüchtigen Ansprüchen und Forderungen, nur weil der Tyrann ein Vater oder eine Mutter ist. Andere Eltern, die als beides gebildet und christlich gelten, machen sich, in Gehorsam zu ihrem Sinn der Treue gegen ihre Sprößlinge, eines weniger erkannten aber nicht weniger ernstlichen Irrtums schuldig, wenn sie ihnen, ganz ungeachtet ob sie es verdienen oder nicht, große Reichtümer vermachen. Sie sind verantwortlich für den Irrtum den dieser Reichtum in ihr Leben bringen mag und für die Tatsache, daß wertvolle und wohltätige Anstalten, und junge und alte der Hilfe würdige Leute, rings um sie herum, ohne einen Groschen zurückblieben! Niemand kann die sich immer wiederholenden Irrtümer ermessen, welche dieses beinahe ungetadelte Vergehen gegen jene größere Liebe für die Menschheit, welche im zweiten großen Gebot veranschaulicht wird, verursacht.
Die widersprechenden Folgen einer sogenannten Gesinnungstreue gegenüber dem Staat oder der politischen Einheit, sind noch offensichtlicher. Das Gute einer innigen Hingebung zum Vaterland oder zur Nation, wenn es sich auf Treue zu einem wahren und richtigen Ideal gründet, kann nie überschätzt werden. Ungezählte Staatsmänner und Patrioten haben dadurch den Pfad zur Freiheit geöffnet. Sie waren wahrhaft edel, weil sie ihr Alles auf den Altar ihres Heimatlandes legten. Hier empfangen wir einige unserer höchsten Begriffe der Größe und des Ruhmes, hier wird unser Herz zur Treue erweckt und bewogen seinen selbstlosesten Anregungen treu zu sein. Und doch, welche Feder kann die Rohheit und die Schrecken, die den Ausdruck eines falschen Sinnes der Treue gegen Verwandtschaft oder Heimatland begleiteten, erzählen! „Das Vaterland!“ Gibt es eine Errungenschaft des Guten, eine Greueltat des Bösen, welche nicht durch den Geist, den dieser Schrei erweckt, verübt worden ist?
Doch sind die Ergebnisse der Treue gegen religiöse Annahmen wenn möglich noch auffallendere Gegensätze. Hier finden sich die erhabensten geschichtlichen Berichte von Glaubensmärtyrern und von Selbstaufopferung, und hier haben die grausamsten und niedrigsten Instinkte der Menschen ihr sanguinisches Szepter geführt. Wenn man auf diesen Tatsachen der Vergangenheit verweilen wollte, würde man Gefahr laufen die Hoffnung für die Menschheit zu verlieren, während die, anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts des Christentums herrschenden Uneinigkeiten und Streite zwischen Menschen und Nationen, die sich ihrer unveränderlichen Treue gegen ererbte religiöse Annahmen rühmen, einen in Versuchung führen, die Hoffnung auf eine Vergegenwärtigung der Einheit und des Friedens der Menschheit aufs Unbestimmte hinauszuschieben. Wie offensichtlich ist es, in Anbetracht aller dieser Dinge, daß unsere menschlichen Begriffe der Treue erneuert werden müssen, und in dem Verhältnis als man sich die Lehren Jesu Christi und der Christian Science aneignet, wird das bestimmt vollbracht.
Mrs. Eddy hat in „Retrospection and Introspection“ den Gedanken, welcher alle die Übel selbstsüchtiger und unedler Treue berichtigt, sehr treffend ausgedrückt. Sie sagt (S. 50): „Bei der Treue von Schülern meine ich das: Gehorsam gegen Gott, Unterwerfung des Menschlichen für das Göttliche, unerschütterliche Gerechtigkeit und strenges Festhalten an der göttlichen Wahrheit und Liebe.“ An einer anderen Stelle schreibt sie (Miscellany, S. 189): „Die Regierung der göttlichen Liebe bezieht ihre Allmacht von der Liebe, die sie im Herzen des Menschen erzeugt; denn Liebe ist treugesinnt. Es gibt keine Treue außerhalb der Liebe.“ Hier ist wahrlich geistige Unterscheidungskraft; es ist das berichtigende Wort welches vollständig genügt; die eine, annehmbare Probe aller erklärten Treue. Sobald der Sinn und Ausdruck der Treue mit dem göttlichen Ideal übereinstimmt, und nur dann allein, ist Treue wahrlich inspiriert und führt auf rechte Bahn. Im anderen Falle ist sie sicher voreingenommen und dient einem heimtückischen, selbstsüchtigen Ziel und Ende. In jeder persönlichen Beziehung wird Liebe zum Christus-Menschen auf seinem Erscheinen beharren und sie wird in kluger Weise den idealen Begriff von Verhalten und Pflicht so darstellen, ihn wachrufen und herausfordern, daß er zum Guten anregt und es vollbringt. Wenn ich meinem Bruder, meinem Freunde, meinem Kinde deutlich beweise, daß ich der Wahrheit, und ihrem eigenen besten Selbst, immer treu sein werde; daß ich bereit bin lieber die gute Meinung, die sie jetzt von mir haben, zu opfern, als nicht zu ihrem besten Wohlergehen und ihren edelsten Errungenschaften beizutragen,— dann werde ich sicher, früher oder später, ihre Achtung gewinnen und in ihnen die Anerkennung der Echtheit und des Wertes meiner Freundschaft erwecken, und sie werden einsehen, daß mein Tadel nicht weniger ein Segen war als mein Lob. Dies ist die Probe von allem angeblichen Interesse für diejenigen, die wir zu lieben behaupten. Wahre Freundschaft muß auf der Erkenntnis von und Ergebung zu geistigen Schätzen beruhen. Ohne Vision, Mut und Selbstlosigkeit, eine vorherrschende Liebe für das Ideale, gibt es keine echte Gesinnungstreue. All das hat Mrs. Eddy mit unvergeßlichem Nachdruck auf Seite 571 von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ erklärt, indem sie sagt: „Es erfordert den Geist unsres gesegneten Meisters, um einem Menschen seine Fehler zu sagen und so Gefahr zu laufen, um des Rechttuns willen und um unserm Geschlecht zu nützen, sich menschliches Mißfallen zuzuziehen.“ Und zur Ermutigung der Schüchternen und Zögernden fügt sie gleich nachher hinzu: „Bist du mit dem Panzer der Liebe angetan, so kann menschlicher Haß dich nicht erreichen.“
Bedenke was dieser höhere Begriff von Treue bedeuten würde, wenn er jeden Tag und in jeder Angelegenheit liebevoll ausgedrückt würde! Eltern würden das Nicht-Ideale im Wandel und Betragen ihrer Kinder nicht länger übersehen oder entschuldigen, noch ihr tätiges Interesse und ihre wohltätigen Bestimmungen, auf ihre eigenen Verwandten begrenzen. Eine wahrere Liebe würde sofort jene erweiterte Wirksamkeit christlicher Brüderschaft hervorrufen, welche instinktiv die Familie Gottes berücksichtigt. Mehr noch,— unter der Führung dieses Sinnes würde Treue gegen sein Vaterland nicht unbedingte Ergebung zu der herrschenden politischen Organisation bedeuten, noch notwendigerweise Unterstützung der gegründeten politischen Ordnung, sondern vielmehr Treue gegen die fundamentalen Grundsätze menschlicher Freiheit und gerechter Regierung. So mag Gesinnungstreue als erklärter Widerstand gegen die bestehenden Mächte und sogar revolutionäre Tätigkeit erscheinen, während ihr einziges Ziel und ihre vorausgesetzte Errungenschaft gerechte Regierung, Aufrechterhaltung der Freiheit und Bürgschaft des größten Guten für die größte Anzahl sind. Solcher Art ist die Gesinnungstreue fortschrittlich gesinnter Staatsmänner, im Gegensatz zum trotzigen Festhalten oder dem Radikalismus politischer Demagogen. Die Geschichte hat gelehrt, daß viel des sogenannten Patriotismus seinen Anfang und sein Ende in reiner Selbstsucht hatte die anderen alles Gute, was in ihren Besitz kam, vorenthielt; Patriotismus in diesem Fall war eine vollständig unberechtigte Behauptung ausschließlicher Rechte, ohne einen Sinn internationaler Brüderschaft oder Verpflichtung. Indem man das zweite Gebot außer acht ließ, entehrte man sein bestes Selbst. Der Nation ergeben vergaß man die Menschlichkeit.
Doch ist es auf dem Gebiet religiöser Überzeugung, daß die wirkliche Auslegung und Erläuterung wahrer Treue, als „Gehorsam gegen Gott“ am notwendigsten ist. Hier werden die engherzigen und beschränkenden Wirkungen eines falschen Begriffes von Treue am besten gesehen. Die jahrelange verderbliche Herrschaft der Sektiererei, Hingebung an Glaubensbekenntnisse, eifriges Formenanhängen, Personenverehrung an Stelle des Prinzips, dem Buchstaben nachfolgen anstatt den Geist kundzugeben,— das sind die Dinge, durch welche jede große religiöse Bewegung der Vergangenheit ihrer lebendigen Wirksamkeit schließlich beraubt wurde, und nur ein unfruchtbarer Überrest blieb von dem, was einst von mächtiger Bedeutung zum Wohl der Menschheit war. Gegen diese Listen des Feindes warnte Christus Jesus seine Jünger ernstlich in seinem scharfen Hohn gegen solche die immer schreien: „Herr, Herr“ und doch den Willen des Vaters nicht tun; und gerade gegen diesen Aberglauben, gegen diese ergebene Konformation an den Buchstaben irgendeiner autorisierten Erklärung, anstatt der Demonstration des göttlichen Gesetzes, sind die Werke unserer Führerin ein beständiger Protest. Sie sah deutlich wie und wo das geschichtliche Christentum gefehlt hatte, und auch sie hat uns, ihre Schüler, in der folgenden Ermahnung, welche, sozusagen, ihre ganze Lehre umfaßt, gebührend gewarnt. „Geliebte, etliche unter euch sind aus weiter Ferne gekommen um in heiliger Stille und gesegneter Kommunion — in Einigkeit im Glauben, Verständnis, Gebet und Lob — mit uns zu knien, und in Freude zurückzukehren, eure Garben mit euch nehmend. Zum Abschied sage ich diesen lieben Mitgliedern meiner Kirche wieder: Vertraut der Wahrheit und vertrauet auf nichts anderes“ (The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany, S. 171).
Gott, die göttliche Wahrheit, kennen zu lernen, Ihm vertrauen,— durch geistige Wahrnehmung und Demonstration richtig geführt und unterrichtet zu werden — das ist eine der größten Bestätigungen der Christian Science. Dieses erhabene Vorrecht anzuerkennen, es erfassen, behüten und sich zunutzen machen, heißt das Bewußtsein der göttlichen Gegenwart und Anwendbarkeit gewinnen, welches der Inbegriff des christlichen Lebens ist. Dadurch kann man dem ersten großen Gebot gehorchen und in jeder Beziehung, in jeder Erfahrung und in jeder Lage, durch Treue gegen Gott, das höchste Gebot der Treue erfüllen. Hier und hier allein kann man dem schwächenden Einfluß der Unterwerfung vor menschlicher Persönlichkeit, dem engherzigen Geist der Konformität an menschliche Lehrsätze, und jener abergläubischen Furcht sich gegen herkömmliche Traditionen zu verstoßen, welche individueller Freiheit und individuellem Wachsen den Todesstoß geben und gegen welche Paulus den dramatischen Protest einreichte, als er ausrief: „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten,“ entfliehen. Der zur Gewohnheit gewordene, bewußte und beständige „Gehorsam gegen Gott“ welcher, wie unsere Führerin erklärt, wahre Treue ist, und ohne welchen unsere Treue gegen das Vaterland, gegen christliche Einrichtungen, und gegen unsere Mitmenschen nur eine wertlose Bemühung,— eine eingebildete Dichtung — ist, dieses Vertrauen auf geistige Eingebung, anstatt auf menschliches Gutheißen, drückt unsere himmlischgeborene Individualität und jene wahre Liebe aus, welche das Herz des Christentums und tatsächlich die einzige Hoffnung der Welt ist. Das Christus-Ideal steht ewig da, als einzig wahre und unerschrockene Kritik aller unvollkommenen Begriffe. So drückt es seine unveränderliche Reinheit aus und verleiht seine unaussprechlichen Segnungen. Das Unwahre, das Unvollkommene und das Ungerechte sollen nie und können nie seiner berichtigenden Mißbilligung entgehen. Es gibt keine geringere Treue als Treue gegen Gott, gegen Wahrheit und Liebe.
