Im Westen der Vereinigten Staaten zieht sich eine Bergkette hin, aus der eine Bergspitze weit über alle andern Gipfel emporragt. Ja, sie kann aus meilenweiter Entfernung noch gesehen werden, wenn die benachbarten Berge nicht mehr sichtbar sind. Ich habe viele Jahre im Schatten dieser Berge gewohnt. Eine Zeitlang wohnte ich jedoch fast fünfzig Meilen weit davon entfernt, doch die Bergspitze und ihre Nachbarn waren von dort noch deutlich zu sehen. Es wurde mir zur Gewohnheit, mich jeden Morgen diesem Bilde zuzuwenden, das mit seinen wechselnden Lichtern und Schatten und dem mannigfaltigen Spiel seiner blauen Farbentöne stets dasselbe und doch immer neu war. Und jedesmal fühlte ich mich durch den Anblick erhoben und beglückt.
Wenn wir uns von der materiellen Auslegung des Seins der geistigen zuwenden, finden wir in der Bibel und in den Schriften unsrer Führerin viele hilfreiche Stellen, wo von Bergen die Rede ist. In den Psalmen heißt es: „Um Jerusalem her sind Berge, und der Herr ist um sein Volk her von nun an bis in Ewigkeit” und auch „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt.” In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 511) sagt Mrs. Eddy: „Geistig ausgelegt bedeuten Felsen und Berge feste und erhabene Ideen.”
Einmal, als über unsrer Stadt tagelang dicker Nebel und schwere Wolken lagen, war der Ausblick auf die Berge völlig verdeckt. Da las ich (Wissenschaft und Gesundheit, S. 299): „Es mag scheinen, als ob der körperliche Sinn oder der Irrtum die Wahrheit, Gesundheit, Harmonie und Wissenschaft verberge, wie der Nebel die Sonne oder die Berge verhüllt; aber die Wissenschaft, der Sonnenschein der Wahrheit, wird die Schatten vergehen lassen und die himmlischen Gipfel enthüllen.” Dieser Gedanke hat mir unendlich geholfen beim Verscheuchen der Schatten des sterblichen Erlebens. Eines Morgens, als die Berge völlig unsichtbar waren, fuhr ich mit der Bahn nach der Bahn nach der Stadt, die am Fuße des hohen Berges liegt. Nach sehr kurzer Zeit, als wir etwas höher gekommen waren, verschwand der Nebel. Die Sonne schien hell, und die wunderbare Aussicht auf die Berge war klar. Ich hatte nicht versucht, den Nebel zu bekämpfen, um die Berge zu sehen und ihnen näher zu kommen. Und in diesem Zusammenhang stiegen die Worte Mrs. Eddys in meinem erwartungsvollen Gemüt auf: „Nechts und links nach dem Nebel ausschlagen, macht den Ausblick niemals klarer. Aber das Haupt über den Nebel erheben ist ein unübertreffliches Mittel” (Miscellaneous Writings, S. 355). War das alles nicht eine schöne Lehre durch Sinnbilder?
Alle Christlichen Wissenschafter kennen in gewissem Grade die Wahrheit über das geistige, wahre Sein und sind zuzeiten dem Wesen Gottes sehr nahe gekommen. Sie haben die Eigenschaften dessen, der „ganz lieblich” ist, durch manchen Segen der unendlichen Liebe, der ihnen zuteil wurde, in gewissem Grade kennen gelernt. Die lebendigen Wasser des Lebens haben ihnen Offenbarung gebracht, sie haben ihr Verlangen nach der Sünde zerstört und damit zugleich deren Folgen, die sich gewöhnlich in Krankheiten und ihren unangenehmen Begleiterscheinungen kundtun. Und ihre Bedürfnisse wurden durch die allgegenwärtige Substanz des Geistes gestillt. Auch wissen alle Christlichen Wissenschafter etwas über das Wesen des Nebels des Irrtums. Sie haben gesehen, wie sein kaltes, verdunkelndes Wesen sich auflöste, wenn sich ihr Denken zu geistigeren Höhen, in das Sonnenlicht Seiner wunderbaren Gegenwart, erhob. Irrtümer mancher Art, wie Haß, Furcht und Krankheit, erwiesen sich in dieser göttlichen Gegenwart als wesenlos.
Wenn daher die Wolken des Irrtums unsern geistigen Ausblick verdunkeln und die göttlichen Höhen — das erhabene geistige Verständnis von Gott und Seiner Idee — verborgen zu sein scheinen, können materielle Methoden oder Entmutigung und Zorn das Dunkel nicht durchdringen. Allein der „Sonnenschein der Wahrheit” mit seinen hilfebringenden, reinigenden und heilenden Wirkungen vermag das Denken zu jenen geistigeren Höhen zu erheben, von wo die Vollkommenheit des Seins deutlich erkennbar ist.
Hätte ich mich von den Bergen abgewandt und statt dessen auf den Qualm der Fabriken und den Staub und Ruß der Fabrikstadt geschaut, dann hätte ich den hohen, sonnenbeleuchteten Gipfel nicht gesehen. Das Denken muß sich beständig Gott und Seiner geistigen Wiederspiegelung, dem wirklichen Menschen, zuwenden. Wenn dann die scheinbaren Nebel auffteigen, lassen wir uns nicht beunruchigen, weil die Wirklichkeit immergegenwärtig ist. Bei solchem Gemütszustand schwinden die Schatten, und die wahre Idee tritt ans Licht in ihrer ganzen Herrlichkeit und Größe. Welche Freude zu wissen, daß jede Schwierigkeit, jede Versuchung, alles Böse nur ein Scheindasein hat, daß sie nur Nebel sind, ein Nichts, das scheinbar die Wahrheit des Seins verdunkelt, die jedoch von dem Irrtum nicht geändert werden kann! Aber der Nebel des Irrtums kann stets durch die Wahrheit verscheucht werden.
