In den ersten Lebensjahren beruht der Bewußtseinszustand des Kindes hauptsächlich auf Eindrücken, die es im Heim empfängt. Diese ersten Eindrücke bleiben solange allein maßgebend, bis der Gedankenkreis sich in der Schule und auf dem Spielplatz erweitert. Das Heim, nicht die Schule, ist also verantwortlich für die ersten sittlichen Lehren, die das Kind erhält; und diese werden dem Bewußtsein durch die Gedanken und Handlungen seiner Umgebung ganz unbewußt übermittelt, mögen sie nun mit den Lehren vom göttlichen Prinzip, von Wahrheit und Liebe übereinstimmen oder ihnen völlig widersprechen und gar einen Beigeschmack des Weltlichen, des Fleischlichen und allen Irrtums haben. Was für eine Verantwortung haben also die Eltern, denen obliegt, um des Kindes willen mit ihren Gedanken allezeit „unter dem Schirm des Höchsten” zu bleiben!
Wir leben in einem aufgeklärten Zeitalter, und unsere Kleinen haben oft ein lebendiges Verständnis für die sittlichen Anforderungen des täglichen Lebens. Bisweilen macht die Lebensweise ihrer Eltern einen tieferen Eindruck auf sie als deren Unterweisungen. Wie wahr ist doch der Ausspruch des Professors James, eines Erziehers unserer Tage: „Was du den Kindern sagst, beeinflußt sie nicht so sehr, wie der Geist deines Lebens, ... wie die höchsten Ziele, nach denen du strebst!”
In Amerika besteht heutzutage in gewissen Kreisen die ausgesprochene Neigung und das Bestreben, die volle Verantwortung für die Erziehung der Kinder den Schulen und Universitäten zuzuweisen. In Kanada machte ein Redner kürzlich in der Öffentlichkeit folgende Bemerkung: „Das Heim von heute scheint ein Ort zu sein, wo die Kinder essen, schlafen und ihre Wäsche wechseln”. Für die sterbliche Wahrnehmung scheint dies leider in manchen Fällen zuzutreffen; geht man aber der Sache auf den Grund, so findet man, daß das Kind von seinem ersten Atemzuge an das sittliche Denken, die Gesinnung des Heims gewissermaßen einatmet, — eine Gesinnung, die je nach ihrer Beschaffenheit stark zum Guten oder zum Bösen beeinflußt. Hier, im Heim, ist der Ort, wo dem Kinde die erste Eingebung werden kann, die es auf Gott, das göttliche Prinzip, hinweist. Mit anderen Worten, hier kann es seinen ersten Begriff von Ehrlichkeit, Reinheit, Keuschheit und Liebe erlangen, — seine erste Anregung, richtig zu denken. Und hier, im Heim, bietet sich die Gelegenheit, die Entfaltung der größten aller Gaben zu pflegen: das Verständnis des einen ewigen Ego, des göttlichen Gemüts, unseres Vater-Mutter Gottes.
Es ist nun bald zweitausend Jahre her, seit unser geliebter Meister auf der Erde wandelte. Er nahm die kleinen Kinder in seine Arme, segnete sie und sprach: „Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes”. Er sagte auch: „Sehet zu, daß ihr nicht jemand von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel”, und ferner sagte er: „Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist”. Und könnten wir jemand „ärgern”, außer es sei, wir verletzten seinen höchsten Begriff von Rechtschafferheit, der das Ergebnis seines Verständnisses vom Prinzip, von Gott, ist?
Wenn wir die Auslegung des Wortes „Engel” in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 581) betrachten, dann werden wir ein tieferes Verständnis von den Worten unseres Meisters erlangen. Ein Teil dieser Auslegung lautet: „Geistige Eingebungen, die rein und vollkommen sind; die Inspiration der Güte”. Und hat sich uns nicht oft bestätigt, wie unmittelbar diese natürliche Güte im Leben kleiner Kinder zum Ausdruck kommt? Es ist somit klar, warum uns Jesus einschärfte, ihnen kein Ärgernis zu geben und ihr reines Denken nicht zu stören, durch das sie tatsächlich das Angesicht ihres Vaters im Himmel in Gerechtigkeit schauen.
Eines der größten Vergehen, das im Namen der Güte begangen wird, ist allzu große Nachsicht gegen die Kinder. Die göttliche Liebe ist Prinzip; aber Prinzip schließt nicht jene falsche Liebe in sich, die alle wunderlichen Einfälle, Launen und materiellen Begierden des Kindes befriedigt. Eine Mutter, die ihrem Kinde fortwährend ein materielles Vergnügen oder Geschenk verspricht, nur um seine fleischlichen Wünsche zu befriedigen, spiegelt nicht die göttliche Liebe wieder. Auf sie findet die hilfreiche Zurechtweisung unserer geliebten Führerin, Mary Baker Eddy, Anwendung: „Wenn Eltern in ihren kleinen Kindern ein Verlangen nach unaufhörlichen Zeitvertreib erzeugen, ein Verlangen danach, immerwährend gefüttert, gewiegt, geschaukelt oder unterhalten zu werden, dann sollten sich solche Eltern in späteren Jahren nicht über die Reizbarkeit oder die Leichtfertigkeit ihrer Kinder beklagen, welche die Eltern selbst veranlaßt haben” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 62). Es ist eines jeden Kindes Geburtsrecht, das göttliche Prinzip, Gott, zu verstehen; und ohne Zweifel sollten seine irdischen Freuden und die Arten seiner Erholung stets mit dem Prinzip übereinstimmen.
„Die Hoffnung der Welt liegt in den Kindern,” schreibt der unermüdliche Erzieher Pestalozzi. Mit noch größerer Güte forderte der sanftmütige Gründer des Kindergartens, Friedrich Froebel, liebevoll auf: „Kommt, laßt uns mit unseren Kindern leben”. Aber es blieb der Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, Mary Baker Eddy, vorbehalten, das Christus-Vorbild noch klarer zu vergegenwärtigen, indem sie in Miscellaneous Writings (S. 110) schrieb: „Geliebte Kinder, die Welt bedarf euer, — und mehr als Kinder denn als Männer und Frauen: sie hat eure Unschuld, eure Selbstlosigkeit, eure treue Hingebung, euer unbeflecktes Leben nötig. Ihr müßt auch wachen und beten, daß ihr diese Tugenden unversehrt bewahrt und sie durch Berührung mit der Welt nicht verliert. Welch erhabeneres Streben gibt es, als das in euch hochzuhalten, was Jesus liebte, in dem Bewußtsein, daß euer Beispiel, mehr als eure Worte, die Sittlichkeit der Menschheit fördert!”
