Es ist bemerkenswert, daß das Sehnen nach Vergebung dem Menschen viel tiefer innewohnt als das Verlangen zu sündigen. Von den niedrigen Eingebungen des fleischlichen Gemüts irregeleitet, begehen die Menschen die schlimmsten Verbrechen; sie wälzen sich eine Zeitlang im Schlamm der Sinnlichkeit und leeren den Becher materieller Befriedigung fast auf den Grund; wenn aber das unausbleibliche Erwachen kommt, dann steigt zu dem großen Herzen der Liebe der Schrei nach Vergebung empor. Tag und Nacht wird er von enttäuschten, schuldbeladenen Herzen in der ganzen Welt ausgestoßen. Wie ist das zu erklären? Was ist die Antwort hierauf?
Als Jesaja die Verderbtheit Judas offen und furchtlos bloßstellte, konnte er selbst inmitten seiner Wehklage den widerspenstigen Kindern mit einer in ihrer Einfachheit und Schönheit fast unvergleichlichen Sprache Vergebung verheißen: „So kommt denn und lasßt uns miteinander rechten, spricht der Herr. Wenn eure Sünde gleich blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden; und wenn sie gleich ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden”. Das ist eine herrliche Verheißung, so wundervoll, daß sie seit ihrer Verkündigung in vielen betrübten doch reuevollen Herzen aller Geschlechter eine Hoffnung erweckt hat, die sie mit dem Psalmisten hat singen lassen: „Lobe den Herrn, meine Seele, ... der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen”.
Woher nun dieses tiefe, nie ruhende Sehnen nach Vergebung? Ist es ein bloßes,fast kindliches Begehren nach menschlichem Mitgefühl oder menschlicher Vergebung der Sünde? Durchaus nicht. Es liegt viel tiefer. Es ist tatsächlich der Wunsch nach Heilung von dem Verlangen, jemals wieder zu sündigen. Wenn Männer und Frauen, die ein ungetreues, pflichtvergessenes Leben geführt haben, wenn diejenigen,die sich nährten von den „Trebern, die die Säue aßen”, zu der Tatsache erwachen, daß selbst das sogenannte menschliche Gesetz gezwungen ist, die menschliche Leidenschaft und Bosheit zu zügeln, dann regt sich in ihnen oft der Wunsch nicht nur nach dem Freisein von körperlicher Beschränkung, sondern auch nach der viel herrlicheren Freiheit, die durch die göttliche Vergebung kommt. Wer diesen geist zum Ausdruck bringt, der ist ganz gewiß dem Himmelreich nahe. Ein geläuterter Geist und ein reuiges Herz sind nahe miteinander verwandt, und,wie Mrs. Eddy in ihrer Botschaft an Die Mutter-Kirche vom Jahre 1902 (S. 19) so schön gesagt hat, „wer die leise innere Stimme der in einer Träne bekannten Reue vernimmt, beherbergt Engel — ist glücklicher als der Eroberer einer Welt”.
Die Christliche Wissenschaft hat der Menschheit die Wissenschaft der Vergebung geoffenbart. Christus Jesus kannte diese Wissenschaft genau. Er wandte sie an, um jede Art von Krankheit und Sünde zu heilen. Man brachte einst einen Gichtbrüchigen in das Haus, wo er war. Als die Freunde des Kranken durch das Menschengedränge nicht zum Meister gelangen konnten, „ließen sie ihn durch die Ziegel hernieder mit dem Bettlein mitten unter sie, vor Jesum. Und da er ihren Glauben sah, sprach er zu ihm: Mensch, deine Sünden sind dir vergeben”. Die Schriftgelehrten und Pharisäer fragten spöttisch: „Wer kann Sünden vergeben denn allein Gott?” Und Jesus antwortete: „Welches ist leichter: zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Stehe auf und wandle? Auf daß ihr aber wisset, daß des Menschen Sohn Macht hat, auf Erden Sünden zu vergeben (sprach er zu dem Gichtbrüchigen): Stehe auf und hebe dein Bettlein auf und gehe heim!”
Wer die Wahrheit über Gott, über die Wirklichkeit, über den Menschen als Gottes Bild versteht, der weiß, daß Krankheit und Sünde Unwirklichkeiten, falsche Annahmen des sogenannten menschlichen, nicht auf Gott, das göttliche Prinzip, gestützten Gemüts sind; und dieses geistige Verständnis zerstört die irrigen Annahmen, mit andern Worten, vergibt sie. Das ist also das göttliche Verfahren der Vergebung, das von Christus Jesus angewandt wurde und in der Christlichen Wissenschaft angewandt wird. Unsere geliebte Führerin sagt in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 339) über die göttliche Vergebung: „Die Zerstörung der Sünde ist die göttliche Methode der Verzeihung. Das göttliche Leben zerstört den Tod, Wahrheit zerstört Irrtum, und Liebe zerstört Haß. Wenn die Sünde zerstört ist, bedarf sie keiner andern Form der Vergebung”.
Die Christliche Wissenschaft ist durch das Heilen von Krankheit nunmehr in der ganzen Welt gut bekannt. Aber wenn auch vielleicht weniger über gesprochen wird, so haben doch sehr viele Menschen durch die geistige Erleuchtung, die ihnen die Lehren der Christlichen Wissenschaft gebracht haben, Erlösung von sündigem Leben — das heißt göttliche Vergebung — gefunden. Es kann jedermann nicht nachdrücklich genug ans Herz gelegt werden, sich in diese Wissenschaft zu vertiefen; denn sie birgt in sich die Hoffnung der Welt, das Heil der Menschen. Die Zeit ist vorbei, wo ein denkender Mensch über die Christliche Wissenschaft spotten konnte. Ihre Früchte sind zu zahlreich und zu weit verbreitet, als daß sie der Aufmerksamkeit derer entgehen könnten, die Augen haben zu sehen.
In ihrem Lehrbuch erklärt Mrs. Eddy die Christliche Wissenschaft und deren Anwendung auf alle menschlichen Bedürfnisse. Wer also Aufschluß darüber wünscht, sollte „Wissenschaft und Gesundheit” aufmerksam lesen. Mit Hilfe dieses Buchs und der Bibel kann man die Wahrheit über Gott und den Menschen sowie die Unwirklichkeit der sogenannten Materie und des Bösen verstehen lernen. Und es wird einem beim Forschen klar, daß wahres Gebet das Verlangen nach Vergebung oder Heilung ist, daß mit dem Wachsen des Verständnisses das Gebet das gewisse Reich der Wissenschaft erreicht, wo man versteht, nicht bloß glaubt. Dann wird man begreifen, daß das Gebet die Sünde, solange sie nicht bereut ist, nicht tilgen kann, daß es sie aber vergibt, indem es sie in einem reuigen Bewußtsein zerstört. Dies ist auf Seite 5 von „Wissenschaft und Gesundheit” treffend zum Ausdruck gebracht mit den Worten: „Das Gebet darf nicht als Beichtstuhl benutzt werden zur Aufhebung der Sünden. Solch ein Irrtum würde der wahren Religion hinderlich sein. Die Sünde ist nur vergeben, wenn sie durch Christus — Wahrheit und Leben — zerstört worden ist”.