Da die Lehre von der Liebe von einigen Propheten und Lehrern schon vor dem christlichen Zeitalter gepredigt wurde, weshalb verkündigte Jesus dennoch sein Gebot, „daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt habe”, als neu? Die Neuheit dieses Gebots bestand offenbar in dem Maße und in der Art der Liebe, die der Maßstab des Meisters forderte, den er in den schlichten Worten ausdrückte: „Wie ich euch geliebt habe”.
So zufrieden ist die Welt mit ihrer Auffassung von Liebe, so sicher, Liebe zu verstehen, so entschlossen, an dem festzuhalten, was sie für Liebe hält, daß sie mehr oder weniger verwirrt, ja, zuweilen fast zornig wird über die Auffassung der Mrs. Eddy von Liebe, die mit derjenigen von Jesus übereinstimmt. Die Welt betrachtet es als übersinnlich und vernunftwidrig, daß das erste Gebot und das „neu Gebot” ein und dasselbe sein sollen,— daß lieben, wie Jesus liebte, heißen soll, man dürfe keinen andern Gott als den Geist, keine andere Liebe als das Gute haben.
Die göttliche Liebe schließt die Liebe zum Guten, die Liebe zur Liebe, in sich. Die göttliche Liebe kennt kein Übel, keine Materie. Das heißt nicht, wir sollen aufhören, unsern Nächsten zu lieben; denn „wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?” Mit andern Worten, wir lieben, was wir vom Guten erfassen und verstehen. Unsere Liebe wird in dem Maße geistiger werden, wie sich unser Verständnis vom Menschen erweitert. Um zu lieben, wie Jesus liebte, müssen wir uns bemühen, den wirklichen Menschen zu verstehen.
Vertrauen ist eine Probe wahrer Liebe. Sanftmut ist das Kennzeichen, Dienst der Beweis der Liebe. Der Höhepunkt der Liebe ist die Willigkeit, den Menschen auf rechte Art zu helfen, selbst auf die Gefahr hin, mißverstanden oder gar verurteilt zu werden, weil man ihnen nicht gibt, was sie haben wollen. Der durchschnittliche Sucher trachtet nicht nach der Wahrheit sondern nach materiellem Wohlergehen und materiellem Gut; und wenn er diese nicht findet, wendet er sich wohl gar gegen die Christliche Wissenschaft und zerreißt sie. Dies ist das Kreuz, das Jesus trug, und das auch seine Nachfolger tragen müssen, wenn sie die Krone empfangen und tragen wollen.
Wenn sich daher unsere Probleme scheinbar nur langsam lösen und unsere Leiden anscheinend nicht weichen, wollen wir den Christus nicht durch unser Denken und Handeln kreuzigen sondern gegen die Wahrheit und die Liebe treuer sein und uns weniger auf materielle Mittel und Personen verlassen. Vor allem wollen wir uns klarmachen, daß wir arbeiten, damit wir die ewige Harmonie und die unendliche Liebe, nicht bloß zeitliche Gesundheit, menschliche Liebe, oder das begrenzte Gute erlangen. Wir können Trost und Ermutigung daraus schöpfen, daß Jesu Problem nicht schnell gelöst war; er mußte dieselben Annahmen der Welt überwinden wie wir. Wir können erst dann wirklich geheilt werden, wenn das sogenannte sterbliche Gemüt zerstört ist; und nur die göttliche Liebe zerstört es und überwindet die Welt. Die Christliche Wissenschaft ist nicht der leichte Weg; sie ist der einzige Weg! Laßt uns wachen und arbeiten, um, wie Mrs. Eddy in ihren Gedichten (S. 14) schreibt, „der Welt Stumpfheit” zu brechen.
„Der Geist ist’s, der da lebendig macht”, erklärte Jesus. Die menschliche Annahme heilt nie. Wer die Wahrheit einzig mit der Absicht erklärt, um den Irrtum zu beseitigen oder zu zerstören, ist auf dem falschen Wege. Das göttliche Gemüt kennt kein Übel, das zerstört oder beseitigt zu werden braucht; es ist sich nur des Guten und der Harmonie bewußt; es kennt keine Furcht, es ist die Liebe, die immer liebt. Bei der Beantwortung der so oft an die Praktiker gerichteten Frage: „Über welchem Gedanken soll ich arbeiten?” ist es gut, das Denken des Patienten über das Körperliche hinaus zum Geistigen zu erheben und ihm den Rat zu geben: „Lebe das Gute, denke das Gute, liebe das Gute, tue das Gute. Mit einem Wort, liebe, wie Jesus liebte, denn die Liebe heilt”.
In dem Maße, wie wir in der Liebe, in dem gesegneten Bewußtsein, das alle Furcht, alles Böse, jeden Sinn von Materie ausschließt, wachsen, entfaltet sich der rechte Sinn von Nachsicht. Gegen die Fehler eines irrenden Bruders nachsichtig sein heißt nicht, sie entschuldigen oder übersehen, sondern sie in wissenschaftlicher Weise als nicht vorhanden erkennen und dadurch die göttliche Liebe dartun,— mit andern Worten, vergeben, wie Jesus vergab.
Einer der Schätze, die aus dem Gleichnis des verlorenen Sohnes gewonnen werden, ist die kostbare Lehre, die uns die sanfte Weisheit des Vaters bietet, als ihn der jüngere Sohn um seinen Teil der Güter bat. Der Vater macht seinem Sohn weder Vorhaltungen, noch verweigert er ihm gebieterisch die Zustimmung; er beruft sich weder auf seine höhere Weisheit, noch übt er einen Zwang auf ihn aus; sondern er will, daß der unstete Sohn in dem Lande, wo die „große Teurung” nie ausbleibt, durch eigene Erfahrung belehrt werde. Dieselbe Lehre wiederholte der große Meister im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, wo er den Rat gibt, geduldig bis zur Ernte — der Zeit der Reife und der Bereitschaft — zu warten, ehe man das Unkraut ausjätet, damit der in der Entwicklung begriffene gute Weizen nicht gestört werde und verwelke und verderbe.
Immer und immer wieder hat unsere liebevolle Führerin diese Wahrheit sowohl durch Unterweisung als auch durch Beispiel gelehrt. Die ersten zwei Seiten des Kapitels „Das Lehren der Christlichen Wissenschaft” in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” enthalten eine unschätzbare Lehre. Wir lernen dort die demütige, weise und großmütige Haltung kennen, die Mrs. Eddy gegen diejenigen einnahm, die anderen Lehren nachzugehen wünschen; wir lernen ihre sanfte Lehre der unfehlbaren Güte und Mildtätigkeit kennen sowohl gegen die, die sich der Christlichen Wissenschaft widersetzen, als auch gegen die, die von ihr abirren; und wir lernen schließlich ihre liebevolle Zusicherung der immer gegenwärtigen Hilfe und unfehlbaren Führung eines barmherzigen, großmütigen und geduldigen Gottes kennen. Der Schwerpunkt des ganzen Abschnitts ist: Richtet nicht; verurteilt nicht; lebet und lasset andere leben; richtet ein recht Gericht.
Dem oberflächlichen Leser kann es scheinen, als stünden diese einleitenden Abschnitte mit dem Inhalt des Kapitels eigentlich in keinem Zusammenhang; doch der hingebende Erforscher der Werke der Mrs. Eddy weiß, daß sie nie etwas müßig oder oberflächlich niederschrieb. Wie am Anfang des vorangehenden Kapitels die Geschichte Jesu und der Maria Magdalena den Grundton der Betätigung der Christlichen Wissenschaft anschlägt — nämlich das göttliche Erbarmen —, so schlägt der Anfang dieses Kapitels den Erundton des Lehrens der Christlichen Wissenschaft an, nämlich den göttlichen Antrieb, die aus Liebe und Verständnis geborene Nachsicht, die Geduld, die der Wahrheit harrt, bis ihre vollkommene Arbeit getan ist, kurz, die mildtätige Liebe, die Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther so vollkommen darlegt. Die Christlichen Wissenschafter tun gut daran, diese Ermahnungen zu befolgen, nie ihre Patienten zu etwas zu zwingen, noch sie zu einem Schritt zu drängen, der mit Widerwillen oder Zweifel getan würde, damit nicht etwa ihr eigener Wille an Stelle des Willens Gottes, des zwingenden Laufs der Wahrheit, trete. „Sie werden alle von Gott”, von der göttlichen Liebe, „gelehret sein”.
Wir wollen indessen nicht wahre Nachsicht mit Übersehen verwechseln, besonders wenn es uns selbst betrifft. Zu viele möchten zu sich selbst sagen: „Laß es jetzt also sein”, wenn sie damit sagen wollen: Wir wollen es noch etwas länger genießen. Die Worte unserer Führerin aus der Botschaft an Die Mutter-Kirche für 1902 (S. 9): „Kümmert euch weniger um die Welt, um Beliebtheit, um Stolz und Behaglichkeit, und liebet”, sollten in jedem christlich-wissenschaftlichen Heim an die Wand geschrieben sein.
Laßt uns wachen, damit wir gegen dieses Geheiß gehorsam seien. Laßt uns danach trachten, christusähnlich — mitfühlend, wahrhaftig, selbstlos, geistig, schlicht und natürlich — zu sein, unermüdlich im Dienen, unendlich geduldig, zum Vergeben und Vergessen bereit, göttlich weise und gerecht, voller Gnade, gelassen in der Erkenntnis der Unwirklichkeit des Bösen, aufrichtig im Zurechtweisen, treu in der Liebe. Laßt uns ernstlich und unermüdlich in der Heiligen Schrift und in den Werken unserer Führerin forschen, damit wir Jesu Liebe verstehen und ihr nacheifern,— der Liebe, durch die allein wir die Kranken und die Sündigen heilen, das ewige Leben dartun und alle Menschen und alle Kräfte um den Maßstab des Meisters versammeln können.
