Es würde in der Tat schwierig sein, sich ein erfreulicheres Vorrecht zu denken als das, das denen zuteil wird, die dazu ernannt sind, als Leser in einer Kirche Christi, Wissenschafter, zu dienen. Und wenn die Zeit eines solchen Dienstes vorüber ist, kann der zurücktretende Leser, wenn er auch natürlich bedauert, daß eine so besonders glückliche Arbeit zu Ende geht, sich nur freuen, daß dank der unserer Führerin verliehenen göttlichen Weisheit auch andere an dem großen Vorrecht der Verkündigung des Wortes Gottes in unseren Gottesdiensten und Versammlungen teilnehmen können. Glücklich ist die Kirche oder Vereinigung, die in ihrer Gemeinde viele hat, die das Vorrecht des Lesens genossen haben! Denn in einer solchen Organisation gibt es viele, die die Hände der jeweiligen Leser unterstützen und sich nicht nur der gesprochenen und gedachten Kritik enthalten sondern auch stets bereit sind, ihren Nachfolgern am Leserpult ein Wort liebevoller Ermutigung und Anerkennung anzubieten.
Was ist bei diesem Aufstieg auf den Berg geistigen Erlangens erquickender als die Anerkennung eines Pilgerbruders, dessen Schritte den unseren vorangingen? Und doch hört man oft, daß Worte der Anerkennung des Dienstes eines Lesers oder eines andern Dieners unserer geliebten Sache vorenthalten werden, weil sie ihn „verwöhnen” könnten! Es wird behauptet, daß dies zu viel Persönlichkeit in die Arbeit hineinbringen könnte. Auf gleicher Stufe damit steht das oft geäußerte mißglückte Urteil, daß der Leser auslege; daß er seine Persönlichkeit in sein Lesen hineinbringe u.s.w. In dieser Hinsicht scheint es weise zu sein, daß die Christlichen Wissenschafter gelegentlich folgende Worte unserer erleuchteten Führerin erwägen (Retrospection and Introspection, S. 73): „Wer sich an die Persönlichkeit klammert oder beständig vor der ‚Persönlichkeit‘ warnt, tut ihr unrecht oder erschreckt die Leute damit und ist das sichere Opfer der eigenen Körperlichkeit”.
Nehmen wir an, eine Kirche oder eine Vereinigung habe die Vorschrift des Kirchenhandbuchs gehorsam befolgt, indem sie solche Leser wählte, die „eine gute Bildung” haben und „mit Verständnis lesen” können (Kirchenhandbuch, S. 32). Nehmen wir ferner an, die Mitglieder dachten vor der Leserwahl an die Erklärung der Mrs. Eddy in The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany (S. 249), daß sie für das Leseramt „den Forscher vorziehe, der am geistigsten gesinnt ist”, und daß, wie sie sofort hinzufügt, „unsere Kirchen am meisten jener frommen, selbstlosen Gesinnung bedürfen, die die Gemeinde vergeistigt”.
Der neu gewählte Leser tritt sein Amt an. Seine ersten Leistungen lassen vielleicht nicht jenes Ebenmaß und Gleichgewicht erkennen, das zuletzt die Arbeit des Freundes kennzeichnete, dessen dreijährige Leserzeit soeben zu Ende ging. Vielleicht blickt er gelegentlich sogar von seinen Büchern auf, wo sein Vorgänger es für weise hielt, die Augen auf das vor ihm liegende gedruckte Wort zu heften. Seine Betonung kann da und dort ungewohnt, sogar unangenehm klingen. Vielleicht scheint sein Lesen der geistigen Auslegung des Gebets des Herrn der Ehrfurcht zu ermangeln; es kann auch sein, daß man denkt, er gehe zu hastig über den ersten Hinweis unserer Führerin auf Gott als Mutter hinweg, oder er lese die herrliche „wissenschaftliche Erklärung des Seins” in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” von Mrs. Eddy (S. 468) zu schnell. Ja, man kann sich fragen, wie man ein solches Lesen wohl drei lange Jahre werde ertragen können! Und dennoch hat die Erfahrung immer wieder gezeigt, daß einer, der dem menschlichen Sinn zuerst als schlechter Leser erschien, sich nach den Worten des Paulus zu einem „rechtschaffnen und unsträflichen Arbeiter, der da recht teile das Wort der Wahrheit”, entfalten kann, wenn ihm die Hände von denen, die für ihn gestimmt haben, gestützt werden.
Während der neue Leser demütig für ein weises und aufbauendes Urteil empfänglich ist, darf er nicht vergessen, daß kein Sterblicher auf Erden es allen Leuten recht machen kann. Daher muß es seine erste Sorge sein, Gott, nicht den Sterblichen, zu gefallen. Er braucht das „Hier bin ich” Abrahams und das „Rede, Herr, denn dein Knecht hört” Samuels. Dieser Bewußtseinszustand erkennt, daß von uns kein heilendes Wort gesprochen werden, kein Troststrahl auf ein bekümmertes Herz sich niedersenken kann. Es war für einen Leser eine Quelle geistiger Erhebung, zu denken, daß das „Hier bin ich” und das „Rede, Herr” nicht nur bedeuten, daß er ohne das Gemüt nichts tun könne, sondern auch, daß das Gemüt sich trotz des Anspruchs der Sterblichkeit des Lesers äußert. Daher kann man nie sagen, das Lesen sei wegen eines gewissen Sterblichen schön oder heilend, sondern trotz dieses Sterblichen.
Ein Leser braucht daher nicht zu verzweifeln, wenn er sich seiner großen Aufgabe nicht würdig fühlt. Wenn er sich ehrlich und ernstlich bemüht, alles, „das da Greuel tut und Lüge”, aus seinem Bewußtsein auszulöschen, kann er sicher erkennen, daß der Anspruch unzerstörter Irrtümer das Licht der Wahrheit nicht ausschließen kann. Wer hat je an einer Fensterscheibe einen Rußfleck gesehen, der schwarz genug gewesen wäre, um das Sonnenlicht nicht durchscheinen zu lassen? Wie kann das sterbliche Gemüt es wagen zu behaupten, daß einige unzerstörte Irrtümer im Denken eines Lesers, in seinem Vortrag oder in seinem Benehmen eine Gemeinde des glorreichen heilenden Lichtes der göttlichen Liebe möglicherweise berauben können?
Ein Leser sagte einst, daß ihm gerade während des Gottesdienstes folgender Gedanke so deutlich vernehmbar kam, wie wenn er gesprochen worden wäre: Du legst diese Lektion aus. Er war einige Augenblicke beunruhigt; dann blitzten ihm die trostreichen Worte aus einem unserer Kirchenlieder durch den Sinn:
„Gott kannst du nur durch Gott verstehen,
Denn er ist unser Licht”.
Das war also die Antwort! Gott legte die Lektions-Predigt aus, und der Mensch spiegelte dieses Licht wider und brachte es zum Ausdruck. Sofort verschwand sowohl jeder Gedanke an Verantwortlichkeit als auch alle Furcht vor der Kritik. Das Gemüt war sein eigener Ausleger und der Mensch des Gemüts freudiger, gehorsamer Ausdruck. Es ist wohl kaum zu verwundern, daß nach dieser Erleuchtung ein Mitglied der Gemeinde sagte: „Mir scheint, als hätte ich noch nie eine solche Entfaltung der Wahrheit erfahren, wie sie mir heute während des Lesens zuteil wurde”.
Die Befürchtung, es könne Persönlichkeit oder persönliche Auslegung in diese heilige Arbeit hineinkommen, braucht daher nicht als Dämpfer der Freude und der natürlichen Unmittelbarkeit über den ersten unsicheren Schritten des Lesers zu hängen. Gott, das göttliche Gemüt, ist der Lenker Seiner Kirche; Er drückt sich durch Kraft, Ehrfurcht und Freude aus, und der Mensch, Sein treuer Zeuge, spiegelt diese Kraft und Ehrfurcht und Freude wider,— nicht durch eine materielle Persönlichkeit sondern durch eine makellose, geistige Individualität. So kann der Leser mit Vertrauen und Freiheit und mit wachsender Demut in seiner glorreichen Arbeit vorwärtsschreiten, indem er sich das ausgezeichnete Beispiel des Priesters Esra, eines in der Bibel erwähnten Lesers, vor Augen hält, der nach den Worten Nehemias „im Gesetzbuch Gottes klar und verständlich” las, „daß man verstand, was gelesen ward”.
