Einer Heldensage des klassischen Altertums entnehmen wir die Erzählung, daß Gordius einen unauflösbaren Knoten, der unter dem Namen Gordischer Knoten bekannt wurde, geknüpft, und daß ein Orakel erklärt habe, derjenige, der ihn auflöse, werde der Beherrscher Asiens werden. Alexander der Große versuchte die Lösung. Ratlos der unlösbaren Aufgabe gegenüberstehend, zog er das Schwert und zerhieb den Knoten mit einem Schlage, wodurch er dem Glauben an schlimme Vorbedeutung, die an das Mißlingen des Auflösens geknüpft war, ein Ende machte.
Die Darstellungen des sterblichen Daseins und die aus seinen Voraussetzungen gezogenen Schlüsse beanspruchen, einen wirklichen gordischen Knoten — einen schwierigen, verwirrenden und mit materiellen Mitteln nicht auflösbaren Knoten — zu bilden. Da und dort, überall, sehen wir die Menschen Glück in der Materie suchen, die Knoten des Sinnenzeugnisses zu entwirren trachten, den immer flüchtigen Bildern menschlichen Ansehens, Besitzes und Vergnügens nachjagen. Wir fühlen, daß es eine Lösung unserer Fragen, daß es irgendwo Befriedigung geben muß. Wir versuchen indessen, uns unserer Schwierigkeiten dadurch zu entledigen, daß wir nur auf dem Papier Schlüsse aus der Voraussetzung der Wirklichkeit der Materie ziehen, anstatt die Unrichtigkeit dieser Annahme aufzudecken.
Auf Seite 277 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” sagt Mrs. Eddy: „Die Materie ist ein Irrtum in der Behauptung. Dieser Irrtum in der Prämisse führt zu Irrtümern in der Schlußfolgerung bei jeder Behauptung, in die er eintritt. Nichts, was wir hinsichtlich der Materie sagen oder glauben können, ist unsterblich; denn die Materie ist zeitlich und daher ein sterbliches Phänomen, ein menschlicher Begriff, der manchmal schön, aber immer irrig ist”.
Der erwachsene Durchschnittsmensch scheint der Inbegriff der ihm anerzogenen Annahmen zu sein. Der eine kann Demokrat, ein anderer Republikaner, ein dritter Anarchist sein, hauptsächlich auf Grund dessen, was jeder gelehrt worden ist. Beginnt der einzelne selbständig zu denken und für sich zu überlegen, so wird er manches berichtigen, indem er viele seiner kindischen Annahmen verwirft. Doch erst dann, wenn er beginnt, sich mit der Christlichen Wissenschaft zu befassen, fängt er an zu erkennen, daß das Gewebe seines Denkens mehr oder weniger eine Menge ungeprüft angenommener und oft zäh festgehaltener Meinungen. Anschauungen und Verkehrtheiten ist. Der Aufbau ist auf einer falschen Voraussetzung oder einer falschen Vorstellung errichtet worden. Glück kann nie dadurch gesichert werden, daß man sich bemüht, die Verwicklungen des Sinnenzeugnisses zu entwirren. Wir müssen den Teufel als Lügner bloßstellen und dadurch zeigen, daß alles, was er sagt, ein verworrenes Lügengewebe ist.
Auf Seite 11 in „Unity of Good” schreibt Mrs. Eddy: „Jesus ließ sich weder zum menschlichen Bewußtsein noch zum Zeugnisse der Sinne herab. Er achtete nicht der Höhnung:, Jene verdorrte Hand sieht sehr wirklich aus und fühlt sehr wirklich‘, sondern er machte diesem eitlen Prahlen ein Ende und zerstörte den menschlichen Hochmut dadurch, daß er den materiellen Augenschein beseitigte”.
Im vierten Kapitel des Evangeliums des Matthäus lesen wir, wie Jesus den Versuchungen des Teufels oder den Verherrlichungen persönlicher Tapferkeit, persönlichen Ansehens, Ruhms und Reichtums entgegentrat und sie meisterte. Nachdem er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Der Versucher flüsterte ihm ein, wenn er wirklich Gottes Sohn sei, müsse er es auf materielle Art dadurch beweisen, daß er Steine in Brot verwandle. Jesus antwortete: „Es steht geschrieben:, Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht‘”.
Weiter ist berichtet, daß der Versucher Jesus auf die Zinne des Tempels stellte und zu ihm sagte: „Bist du Gottes Sohn, so laß dich hinab; denn es steht geschrieben:, Er wird seinen Engeln über dir Befehl tun, und sie werden dich auf den Händen tragen, auf daß du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest‘”. Tritt an einen die Einflüsterung heran, seine Tüchtigkeit im Denken zur Schau zu tragen, sich unnötigerweise der Gefahr auszusetzen oder anders als demütig, bescheiden und klug zu werden? Möchte man sich oder andere aus eigener Kraft heilen können, anstatt aus dem Wege zu gehen und das Licht des heilenden Christus ungehindert durchscheinen zu lassen? Jesus schnitt dem Teufel das Wort sofort dadurch ab, daß er antwortete: „Wiederum steht auch geschrieben:, Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen‘”. Als der Teufel Jesus auf einen sehr hohen Berg geführt und ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten an Reichtum und Ruhm dafür angeboten hatte, daß er die Wirklichkeit solcher Dinge anerkenne, antwortete Jesus: „Hebe dich weg von mir, Satan! denn es steht geschrieben:, Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen‘”.
Eine der listigen Arten, auf die der Irrtum sich der Zerstörung zu entziehen sucht, ist der Versuch, uns in Auseinandersetzungen hineinzulocken. Lassen wir uns mit Leuten, die sich der Christlichen Wissenschaft widersetzen oder sie falsch verstehen, in fruchtlose Besprechungen ein? Wozu sich aber auseinandersetzen, anstatt den ganzen sterblichen Vorwand im Denken zu verwerfen? Es beruht alles auf der einen Lüge und muß daher geleugnet werden. Ein Christlicher Wissenschafter ist duldsam gegen diejenigen, die anders denken als er; er braucht sich aber durch einen falschen Sinn von Duldsamkeit nicht zu einer Betrachtung dessen, was er als falsch erkennt, verführen zu lassen. Die List des sterblichen Gemüts kann nie eines der Kinder Gottes betrügen, und der wachsame Schüler kann den Beweggrund aufdecken und dadurch dem Irrtum die Maske abnehmen. Seine Antwort muß heißen: „Hebe dich weg von mir!”
Doch selbst dann, wenn wir glauben, die Lüge des Sinnenzeugnisses zerhauen zu haben, finden wir, daß Fortschritt mehr bedeutet, als wir dachten. Täglich und stündlich müssen wir beweisen, daß wir unerschütterlich an der Bahn festhalten, der wir nun anvertraut sind. Damit die Pferde auf eisigen Wegen oder an glatten Abhängen vorwärtskommen, werden sie scharf beschlagen. So müssen auch wir gut ausgerüstet sein, damit wir nicht gleiten oder fallen. Sodann müssen wir uns an unsere Bahn halten, uns weigern, zurückzublicken: wir müssen es ablehnen, an Krankheit oder Sünde zu denken, darüber zu reden oder sie zum Ausdruck zu bringen.
Zuweilen kann sich ein Schüler, der beträchtliche Fortschritte gemacht und viele Heilungen erfahren hat, durch ein Persönlichkeitsgefühl, durch ein Gefühl verstandesmäßiger Überlegenheit oder ein Lässigkeitsgefühl versuchen lassen, in seiner Pflicht zu erschlaffen, in der Pflicht, dem Irrtum entgegenzutreten, d.h. die Darstellungen der Sinne jederzeit zu verwerfen. Vielleicht sieht er zurück und erhascht wieder einen Schein der schimmernden Trugbilder im Lande der Knechtschaft.
Im Gerichtswesen gibt es bekanntlich die res judicata oder die rechtskräftig entschiedene Sache. Ist eine vor ein zuständiges Gericht gebrachte Frage rechtskräftig entschieden, so kann sie von denselben Parteien nicht mehr als Streitgegenstand vor Gericht gebracht werden. Mit andern Worten, eine einmal rechtmäßig entschiedene Sache ist endgültig entschieden und kann zu einer weiteren Verhandlung nicht mehr zugelassen werden. Dies ist etwas, was der Schüler überlegen sollte. Jede zur Lösung an ihn herantretende Frage muß auf der Grundlage der Christlichen Wissenschaft — der Allheit Gottes oder des Geistes und der daraus folgenden Nichtigkeit der Materie — ausgefochten oder ausgearbeitet werden. Die Entscheidung ist das Ergebnis der Anwendung der Wahrheit beim Beweisen, beim Heilen. Die Entscheidung sollte endgültig, unwiderruflich sein; und sie sollte so erkannt werden, wenn man vorwärtsschreiten und nicht in einem Sumpf künftiger Unbestimmtheit umhertappen will. Über den Streitpunkt ist entschieden worden. Der Mensch war nie krank; der Mensch ist auch jetzt nicht krank. Warum also die Krankheitsbilder wiederholen, die man einst für wirklich gehalten haben mag, von denen man aber jetzt weiß, daß sie unwirklich waren? Seine Schlußfolgerung hinsichtlich einer Versuchung zu sündigen war richtig. Er hat diese oder ein Verlangen nach ihr gemeistert. Jene Schlußfolgerung muß bestehen bleiben. Es kann kein Zurückgehen geben, nicht einmal ein Zurückblicken. Doch wie oft tut man gerade diese Dinge! Obgleich man aus den beklagenswerten Folgen der Sünde herausgehoben worden ist, durchlebt man noch einmal einige der Gedanken, die dorthin führen. Man ladet gerade die Teufel, die einem Leiden bereiteten, ein, die Tempel des Bewußtseins wieder zu bewohnen.
Wieviel schneller und weiter wir doch kommen könnten, und wieviel Leid wir uns ersparen würden, wenn wir immer demütig und gehorsam und infolgedessen fähig wären, jede Neigung, zurückzublicken oder zu zögern, sofort auf die rechtskräftig entschiedene Sache oder die ursprüngliche Entscheidung zu verweisen!
Als die Feinde Nehemias, bei ihrem Versuche der Verhinderung des Wiederaufbaus der Mauern Jerusalems zurückgeschlagen, Nehemia listig einluden, zu ihnen zu kommen und mit ihnen zu verhandeln, antwortete er kurz und bündig: „Ich habe ein großes Geschäft auszurichten, ich kann nicht hinabkommen; es möchte das Werk nachbleiben, wo ich die Hand abtäte und zu euch hinabzöge”. Und fast drei Jahre nach seinem Beweis in der Wüste konnte Jesus sagen: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes”.
